Long Way Home

Long Way Home

Pairing: McShep
Genre: AU, Romance, Humor, Slash,
Rating: NC-17

Warnungen: Das ist eine AU-Story, die auf der Erde spielt, ohne Atlantis und ohne das Stargate. John ist ein Geschäftsmann, lediglich Rodney blieb der Physik treu

Kurzinhalt: Weihnachten mit der Familie. Für den einen Mann ein Gräuel, für den anderen eine willkommene Ablenkung. Doch es ist der Weg, der die beiden aufeinandertreffen lässt …

Anmerkungen: Geschrieben für den NaNoWriMo 2013, nun als Weihnachtsgeschenk 😉
Mein besonderer Dank geht an Tamara, die sich noch kurz vor Weihnachten und währenddessen die Zeit genommen hat, um dieses Projekt zu betan!

Header nicht schön, dafür aber selbst gemacht ;)

Header nicht schön, dafür aber selbst gemacht 😉

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18. Dezember 2006 – Colorado Springs, Colorado

„Doktor McKay … Rodney“, setzte Jason Rittner, seines Zeichens Personalchef von Humble Research, ruhig und gelassen an und ließ sich mit einer solchen Selbstgefälligkeit auf der Ecke seines übergroßen Eichenschreibtisches nieder, dass es sogar Rodney mehr als anwiderte. „Du bist brillant, niemand würde das bestreiten.“

„Was?!“, entfuhr es Rodney bereits zum zweiten Mal, seit er das Büro betreten hatte. Hatte er sich anfangs beim besten Willen nicht denken können, warum man ihn ins Personalbüro zitiert hatte, so war Rodney nun vollends von Jasons Unfähigkeit und Dreistigkeit überzeugt. Aber er hatte noch nie große Stücke auf diesen gegelten Schnösel gehalten. „Das glaube ich einfach nicht!“

„Aber Rodney, versteh doch, wir brauchen nur ein wenig mehr Luft und Zeit, um wieder auf einen grünen Zweig zu kommen und du … du würdest deinen Posten auch nicht wirklich verlieren; es wäre so etwas wie ein Urlaub …“, meinte der Personalleiter erneut, als er einen weiteren und vor allem kühneren Vorstoß wagte und seine Hand zu Rodneys Knie führte. „Ich kann dir wirklich versichern …“

„Gar nichts können Sie mir versichern! Und nehmen Sie Ihre Hand von meinem Bein und hören Sie auf, mich zu duzen“, forderte Rodney energisch, als er aus dem unbequemen Sessel sprang. „Ich lasse mich doch nicht für dumm verkaufen. So weit kommt es noch! Ich überlasse euch meine Theorien, und irgendein halbgarer Trottel da unten würfelt mit den Berechnungen rum, bis der Laden hier in die Luft fliegt. Und ich soll es dann später ausbaden, oder wie? Kommt gar nicht in Frage! Diese Arbeit könnte ein Meilenstein in der Energiegewinnung sein. Himmel, sie könnte eine der größten Errungenschaften der Menschheit sein. Ich könnte sogar den Nobelpreis gewinnen.“

Rittner lachte auf. „Findest du nicht, dass du dich selbst vielleicht ein bisschen zu ernst nimmst? Rodney, es ist nur eine Theorie. Selbst wenn sie bei deinen Kollegen halbwegs gut ankommen würde, muss die Umsetzung noch lange nicht funktionieren.“

„Das werden wir sehen. Aber bestimmt werden die Tests dann nicht hier stattfinden.“

„Rodney, ich bitte dich …“

„Wir sind immer noch nicht beim Du und Sie werden sich anderweitig umsehen müssen, wie Sie auf Ihren grünen Zweig kommen. Ich lasse mir meinen jedenfalls nicht abschneiden. Ich werde meine Forschung fortsetzen und suche mir auch eine geeignete Einrichtung für mögliche Tests.“

„Das kannst du … das können Sie nicht“, meinte Rittner, der sich beinahe drohend vor ihm aufbaute. „Sie sind vertraglich verpflichtet, mögliche Tests bei Genehmigung von und bei Humble Research hier durchzuführen.“

„Mag sein. Aber so was kann sich schnell ändern. Nicht wahr? Humble Research steht kurz vor dem Bankrott. Das ist schon lange kein Geheimnis mehr und Sie haben es eben sogar zugegeben. Wer weiß, welcher arme Tropf sich Ihrer Firma annimmt, und welche Veränderungen auf Sie alle zukommen.“

„Nun, noch ist es nicht so weit. Abgesehen davon, werden Personalchefs nicht so schnell von irgendwelchen Veränderungen betroffen, die mit einer Übernahme einhergehen. Aber … ich könnte dafür sorgen, dass auch Sie eine Ausnahme dieser Regel darstellen“, erklärte Rittner mit dem widerlichsten Grinsen, das Rodney je gesehen hatte. „Sie … müssten mir nur ein klein wenig … entgegenkommen.“

„Und als ich dachte, er könnte nicht widerlicher sein …“

„Vorsicht Rodney“, mahnte Rittner, als das Grinsen erstarb.

„Als ob ich darauf noch etwas gebe. Für wen halten Sie mich eigentlich, hm? Ich bin keiner der verwahrlosten und hoffnungslosen Stricher, die Sie jeden zweiten Freitagabend im heruntergekommenen Teil der Stadt am Straßenrand aufgabeln und das Wochenende über dumm und dämlich vögeln.“

„Rodney, du hast gerade einen groben Fehler begangen.“

„Äh, nein … nein, ich denke nicht. Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Wir wissen doch beide, dass das alles doch nur eine reine Geldsache ist. Meine Brillanz interessiert Sie nur insoweit, als dass Sie meine Forschungen in die Hände bekommen wollen, um den Wert Ihrer herunter gewirtschafteten Einrichtung in einem guten Licht erscheinen zu lassen und einem potenziellen Interessenten die Nase lang machen zu können. Haben Sie dann erst einmal den Vertrag in der Tasche, verändert sich mein Zwangsurlaub in eine Kündigung. Vielleicht sprengt Kavanagh auch vorher alles in die Luft. Und was meine Forschung der neuen Energiegewinnung angeht … es ist, wie Sie sagten. Es ist nur eine Theorie. Ich habe keinerlei Projekte oder Anträge vorgelegt oder beantragt, also bin ich zu nichts verpflichtet. Nicht mehr.“

„Was soll das heißen, Rodney? Was meinst du?“

„Oh Verzeihung, war das nicht deutlich genug? Ich kündige und meine Arbeit nehme ich mit. Und wir sind immer noch nicht beim Du!“ Damit war für Rodney das Gespräch beendet, als er auf dem Absatz kehrt machte und aus dem Büro stapfte.

~~~

Rodney hatte nicht viel Zeit damit verschwenden müssen, die wenige Habe einzupacken, die sein Büro und sein Labor zierte. Gerade mal seinen Laptop mit den wichtigsten Daten seiner Forschung, ein kleines Poster einer benachbarten Galaxie – Astrophysik war neben der theoretischen Physik eines seiner größten Steckenpferde – und da war noch der kleine Kaktus, den er von einer verflossenen Freundin geschenkt bekommen hatte. Auch wenn er der Frau mittlerweile keine Träne mehr nachweinte, so kümmerte er sich dennoch immer noch hin und wieder um das kleine stachelige Ungetüm. Es konnte ja schließlich nichts dafür, dass seine frühere Besitzerin einst Zweifel an seinen Entscheidungen, wie und mit wem er sein Leben leben sollte, in ihm hatte aufkommen und ihn alles gründlich hatte überdenken lassen.

Und Gott sei Dank waren Kakteen recht genügsam und brauchten nur gelegentlich ein paar Tropfen Wasser.

Aber da war noch die Sache mit dem Kaffee. Rodney liebte Kaffee – die Kaffeemaschine mittlerweile weniger. Ja, er hatte sie zwar schon vor Jahren gekauft und ihr einen Sonderplatz in seinem Büro zukommen lassen – etwas, was die Firma ihm nur nach langem Hin und Her und etlichem Gezeter gestattet hatte –, aber nachdem sie anfangs ihren Dienst auch wie erwartet verrichtete und ihm mit dem köstlichen frischgebrühten Koffein durch die eine oder andere knifflige Berechnung geholfen und ihm auch tagtäglich während der vielen Auseinandersetzungen mit Kavanagh und anderen Fachidioten zur Seite gestanden hatte, so schien das Ding nun doch aus dem letzten Loch zu pfeifen.

Er machte kurzen Prozess und ließ die Maschine in die Mülltonne auf dem Firmenparkplatz wandern.

„Damit habe ich wohl Übung“, murmelte McKay und warf der Kaffeemaschine einen wehmütigen Blick zu. „Erst meine Karriere, dann meine Kaffeemaschine. Was kommt als Nächstes in die Tonne?“

Rodney schlug den Kofferraum zu, blickte noch einmal traurig zu seinem ehemaligen Arbeitsplatz und klemmte sich dann hinter das Steuer seines Wagens und brauste davon.

Er hatte gerne dort gearbeitet, auch wenn seine Kollegen, allen voran Kavanagh und Lee, ihn regelmäßig in den Wahnsinn trieben. Ganz zu schweigen von Rittners billigen und ekelhaften Annäherungsversuchen. Es war ihm ohnehin ein Rätsel, wie Rittner schon vor einiger Zeit dahinter gekommen war, dass Rodney eher an Männern interessiert war. Und es war ihm ein noch größeres Rätsel, wie Rittner glauben konnte, dass ausgerechnet er eine Chance bei ihm hätte.

Rodney schüttelte sich und ließ einen angewiderten Laut über seine Lippen kommen. Gott sei Dank lag dies nun hinter ihm. An dem neuen Arbeitsplatz würde es bestimmt besser sein. Wo immer das auch sein mochte.

Aber zunächst galt es, sich wieder etwas zu beruhigen und zu sich selbst zu finden. Wenn er recht überlegte, war ein Urlaub vielleicht doch keine so schlechte Idee. Er hatte schon seit Jahren nicht einmal einen freien Tag, abgesehen von Wochenenden oder Feiertagen, gehabt. Und selbst die verbrachte er meist lieber in seinem Labor. Vielleicht würde ihm sogar ein Besuch bei Jeannie und seiner kleinen Nichte Maddie ganz gut tun. Seine Schwester hatte ihm schon vor Tagen eine Email zukommen lassen und ihn eingeladen, die Weihnachtsfeiertage bei ihr und Kaleb und Maddie zu verbringen. Ja, das wäre eine richtig gute Idee.

~~~

Nachdem Rodney noch etwas Geld von seinem Konto abgehoben, einen Spaziergang durch die Mall gemacht und gerade das eine oder andere für den nächsten Tag und seine Reise nach Vancouver besorgt hatte, war Maddies Weihnachtsgeschenk an der Reihe.

Natürlich hatte er schon vor Wochen das passende Geschenk gefunden und es bereits nach Vancouver geschickt. Kaleb würde kaum Schwierigkeiten haben, es zusammenzubasteln. Laut Beschreibung war es selbst für den Unbeholfensten eine Leichtigkeit. Dann würde es doch wohl auch ein Englisch-Lehrer hinbekommen. Und selbst wenn nicht, so konnte er sich eben selbst darum kümmern, nun, wo er das Angebot seiner Schwester wahrnehmen würde.

Aber dieser eine Riesen-Teddy musste mit. Auch wenn er Maddie um einen halben Kopf überragte.

~~~

„Hey Jeannie“, begrüßte Rodney seine Schwester, die bereits nach dem dritten Klingeln am Hörer war.

„Mer! Wie schön, dass du anrufst. Ich habe dir vor ein paar Tagen eine Mail geschickt. Ist sie nicht bei dir angekommen? Ich dachte, du könntest Weihnachten bei uns verbringen. Maddie würde sich so sehr freuen, ihren Onkel Roddy wiederzusehen.“

„Ja … ja, deswegen rufe ich an. Ich denke, ich werde dein Angebot annehmen und zu euch kommen. Das heißt, wenn es euch keine Umstände macht. Aber ich würde auch nur ein paar Tage bleiben.“

„Ach Blödsinn, Mer. Du machst uns doch keine Umstände. Ich habe schon dein Zimmer vorbereitet und wollte dich auch schon anrufen. Ein Nein hätte ich dieses Mal nämlich nicht akzeptiert, weißt du? Maddie spricht von nichts anderem mehr und Kaleb hat mich auch schon mehrmals gefragt, ob ich schon Antwort von dir hätte, also …“

„Ja … ja, tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde. Die letzte Zeit war ein wenig … stressig“, versuchte Rodney zu erklären, wollte aber nicht gleich mit Details rausrücken. Das musste erstens nicht am Telefon sein und zweitens hätte es auch noch Zeit bis nach den Feiertagen. Falls er überhaupt mit seiner Schwester über die vergangenen Geschehnisse sprechen würde. Aber so wie er Jeannie kannte …

„Ist alles in Ordnung, Mer? Du hörst dich nicht gut an. Also, ich meine … es klingt, als hättest du Probleme.“

„Ach was, nein. Alles bestens.“

„Du warst schon immer ein miserabler Lügner. Sogar am Telefon merkt man es. Mer, was ist los?“, fragte Jeannie mit etwas mehr Nachdruck und so musste Rodney nun doch über die Hartnäckigkeit seiner Schwester schmunzeln.

„Ach, das … es ist nichts. Glaube mir. Es ist nicht Schlimmes, keine Bange. Ich … ich habe nur gekündigt, das ist alles.“

„Gekündigt! Aber … wieso, Mer? Du hast doch gerne als Physiker gearbeitet.“

„Das tue ich noch, nur … nur nicht mehr bei Humble Research. Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir irgendwann … nach den Feiertagen, okay?“

„Hast du Mist gebaut?“

„Was?! Nein! Ich habe keinen Mist gebaut! Wie kommst du nur darauf?“

„Na ja, ich kenne dich doch. Außerdem hast du schon öfter …“

„Habe ich nicht! Wieso denkst du immer, ich sei schuld? Also wirklich, Jeannie.“

„Na dann sag doch, was passiert ist.“

„Jeannie bitte, nach den Feiertagen“, bat Rodney nochmals.

Okay. Ja, na schön“, gab Jeannie zurück, wunderte sich aber etwas. Was um alles in der Welt ging in Colorado nur vor sich? Was musste nur geschehen sein, dass ihr Bruder freiwillig kündigte? Ganz zu schweigen davon, dass er nicht darüber reden wollte. Nicht dass er auch sonst nicht sehr gesprächig über sein Leben war, aber es musste schon etwas Gravierenderes sein, wenn er freiwillig einen guten Posten aufgab und so rumdruckste.

„Ist das Paket von mir gut bei euch angekommen? Maddies Geschenk?“, fragte Rodney weiter und versuchte so, von seinen Problemen abzulenken.

„Hm? Oh Ja. Ja, es ist schon vor Wochen angekommen. Kaleb hat auch schon versucht, es aufzubauen, aber er meinte, es sei besser, wenn du es machst. Du weißt ja, er hat zwei linke Hände.“

„Ja, natürlich. Kein Problem. Also, ich denke, ich werde mit dem Flug übermorgen ankommen. Vielleicht kriege ich aber auch noch einen für morgen. Ich schicke dir noch eine Mail, wann genau ich in Vancouver ankomme.“

„Ist gut. Dann kommen entweder ich oder Kaleb dich abholen.“

„Oh nein, das müsst ihr nicht. Ich kann mir auch ein Taxi …“

„Denk nicht einmal daran, mit dem Taxi zu fahren. Wir holen dich am Flughafen ab. Ende der Diskussion. Oh-oh, meine Kekse verbrennen, ich muss Schluss machen. Mer … bitte lass den Kopf nicht hängen. Ich bin sicher, es renkt sich alles wieder ein. Und wenn du bei uns bist, dann entspannst du dich erst ein bisschen und dann sprechen wir in Ruhe über alles und mal sehen, vielleicht finden wir auch eine andere tolle Anstellung für dich.“

„Ja, sicher. Warum nicht. Wir werden sehen. Also, bis übermorgen, Jeannie.“

„Bis übermorgen. Ich hab dich lieb, Mer.“

„Ja … ja“, gab Rodney gedrückt zurück und musste doch tatsächlich wieder etwas schmunzeln, als das abwartende Schweigen lauter zu werden schien. „Ich … habe dich auch lieb, Jeannie.“

 

18. Dezember 2006 – Los Angeles, Kalifornien

Gut gelaunt und pfeifend trat John aus dem Fahrstuhl, grüßte – mal nickend, mal lächelnd – die ihm entgegenkommenden Personen, schüttelte auch hier und da die Hand eines Mitarbeiters und beantwortete deren vereinzelte Anfragen.

Er bog um die Ecke des großen hellen Flurs und erblickte sogleich Leanne, seine Vorzimmerdame, die hinter ihrem Schreibtisch saß, geduldig einkommende Anrufe entgegennahm, aber gleichzeitig eifrig die Tastatur bearbeitete.

Ein kurzes Lächeln stahl sich über ihre Lippen, als sie ihren Boss erblickte und deutete dann auf den kleinen Stapel von Papieren und Briefen.

John mochte Leanne. Sie gehörte zu den wenigen Angestellten, die er damals selbst hatte einstellen können, als er diese kleine Zweigstelle des Familienunternehmens übernommen hatte. Von Anfang an hatte sie nicht den Eindruck einer steifen, biederen Sekretärin gemacht, die tagtäglich in hochgeschlossener Bluse oder im Rollkragenpullover oder gar im femininen Businessanzug streng nach Arbeitgeber-Assistentin-Verhältnis agierte.

Sie war freundlich, humorvoll und gut aussehend, locker und aufgeschlossen, intelligent und tüchtig und vor allem diskret-indiskret. Zudem stand sie ihm stets zur Seite, wenn es irgendwelche Probleme oder Unklarheiten im Geschäftswesen gab und es nötig wurde, Überstunden zu schieben und auf sie war auch sonst Verlass, in jeder Situation.

Das hatte John schon recht früh gemerkt, als ein Geschäftspartner seines Bruders glaubte, ihm auf unangenehme Art und Weise auf den Zahn fühlen zu müssen. Leanne brachte sich auf ihre unnachahmliche Art und Weise ein und zeigte sogar vollen Körpereinsatz, als sie ihn aus dieser mehr als peinlichen Situation rettete.

„Morgen Leanne“, grüßte John seine Vorzimmerdame, als sie ihr Telefongespräch beendet und das Headset abgenommen hatte.

„Guten Morgen, John. Na, wieder deine zehn Meilen hinter dich gebracht?“, fragte Leanne lächelnd, als sie den Blick über ihren Boss gleiten ließ und ihr die noch feuchten Haarsträhnen, die von seiner Dusche herrührten, auffielen.

„Yep, wie jeden Tag.“

„Deine Disziplin möchte ich haben. Oder noch besser, Mike sollte sie haben. Für mich ist es ohnehin wohl nichts auf Dauer. Ich müsste genauso früh aus den Federn wie du, und selbst wenn das Wetter in L.A. im Dezember immer noch recht mild ist, dann ist es mir doch definitiv zu kühl.“

„Beim Laufen wird dir schnell warm“, meinte John grinsend, als er noch immer den Stapel an Briefen nach ihrer Dringlichkeit sortierte.

Leanne lächelte. „Das glaube ich gerne. Nein, ich denke, für Mike wäre es eher angebracht. Nicht mehr lange und er beantragt, von Zuhause arbeiten zu können. Dann kriege ich ihn gar nicht mehr von der Couch.“

„Weißt du was? Bei der nächsten Feier unserer Firma bringst du deinen Mike einfach mal mit und dann rede ich mal ein Wörtchen mit ihm, einverstanden? Den kriege ich schon wieder fit“, sagte John und steuerte sein Büro an.

„Ich nehme dich beim Wort. Äh John …“, antwortete Leanne, als sie ihren Chef noch einmal zurückrief. „Dein Bruder ist da.“

„Du hast ihn rein gelassen?“, seufzte John fragend.

Leanne schmunzelte. „John, er ist dein Bruder und außerdem ist Weihnachten.“

„Ja, genau deswegen ist er hergekommen.“

„Ich habe euch schon mal Kaffee reingebracht. Bagels und Donuts sind unterwegs.“

„Danke, Leanne. Du bist die Beste.“

John atmete noch einmal tief durch, bevor er die Tür zu seinem Büro öffnete und seinen Bruder am Schreibtisch sitzen sah. „Hältst du mir den Stuhl warm … oder habe ich ihn dir warm gehalten?“

„Weder noch. Ich dachte nur, ich komme mal kurz auf einen Besuch vorbei“, erwiderte Dave, der sich erst nach Johns aufscheuchender Geste erhob. „John!“ Die brüderliche Umarmung war zwar kurz, aber innig. „Schön, dich zu sehen. Siehst gut aus. Kalifornien bekommt dir offenbar.“

„Ist das der Neid, der aus dir spricht?“

Dave winkte beiläufig ab, als er sich dann seines Jacketts entledigte und den Sessel an der Seite des großen Büros ansteuerte. „Ich bitte dich … ich kann immer noch alle sieben Sachen zusammenpacken und hierher kommen, wenn ich will. Dad hätte keine Schwierigkeiten, meinen Posten mit einem fähigen Mann zu besetzen. Ehrlich gesagt … denke ich tatsächlich daran. Claire vermisst das Meer und Mira würde es hier ganz bestimmt auch gefallen.“

„Hast du es ihm schon gesagt?“, fragte John, als er es seinem Bruder gleich tat, in einem Sessel ihm gegenüber Platz nahm und ihm und sich Kaffee eingoss.

„Wir haben darüber gesprochen, aber im Moment scheint Expandieren und ein neuer Chefwissenschaftler seine Hauptsorge zu sein.“

„Oh, nicht schon wieder. Er will wirklich noch weiter expandieren? Wie will er es diesmal anstellen?“, fragte John und verzog schon missmutig das Gesicht. Das fehlte ihm gerade noch. Noch mehr Niederlassungen, noch mehr Arbeit, noch mehr Reisen und Überstunden und noch mehr Geschäftsleute, mit denen er sich herumschlagen musste.

„Aufkauf vermutlich“, antwortete Dave und nippte an seinem Kaffee. „Hey, deine Leanne sagte etwas von Bagels.“

„Sind unterwegs und sie ist nicht meine Leanne“, meinte John. „Fang nicht wieder damit an, Dave.“

„Hey, lass mir doch ein bisschen Spaß.“

„Das war schon letztes Jahr nicht mehr komisch.“

„Für mich schon“, gab Dave grinsend von sich. „Nein, mal ernsthaft, John. Wie geht es dir wirklich? Wie sieht es aus bei dir? Gibt es mittlerweile jemanden in deinem Leben?“

„Mir geht es gut, es sieht gut aus und nein“, antwortete John kurz und knapp und entschied, nicht weiter darauf einzugehen. Gespräche über Johns Privatleben endeten in der Sheppard Familie meist in Streitigkeiten und die gab es in der Vergangenheit schon zuhauf. Darauf hatte er wirklich keine Lust mehr. „Wie geht es Claire und Mira überhaupt?“

„Bestens, bestens, danke. Die beiden sind schon bei Dad in Belcarra und treiben ihn wahrscheinlich bereits mit Plätzchen backen und Weihnachtsbaum schmücken in den Wahnsinn“, antwortete Dave und beobachtete, wie Leanne endlich mit einem Tablett, beladen mit den bereits sehnsüchtig erwarteten Bagels und Donuts, das Büro betrat.

Natürlich dachte sie auch daran, neben den beiden Köstlichkeiten auch Marmelade und andere Brotaufstriche sowie ein wenig Wurst und Käse anzubieten. Dankbar und freudestrahlend machten sich die beiden Männer über das kleine Frühstücksbuffet her.

„Ihr verbringt diese Weihnachten also wieder in Belcarra“, meinte John und merkte, wie seine Gedanken zu wandern anfingen. Doch Dave rief ihn gleich wieder zurück.

„Wir, John. Wir. Dad möchte, dass du diese Weihnachten mit uns verbringst.“

„Hatten wir das nicht erst?“, gab John verstimmt zurück, als er merkte, wie ihm schlagartig der Appetit verging. „Außerdem habe ich viel zu viel Arbeit. Ich habe den Jahresabschlussbericht immer noch nicht fertig.“

Ein kurzer Besuch von ein paar Stunden, vielleicht einem Tag, das war auszuhalten und zu verschmerzen. Vor allem, wenn man im Notfall schnell das Weite suchen konnte, bevor die Nörgelei, die Vorwürfe und Verurteilungen des Vaters überhandnahmen und zu großen Schaden anrichteten. Aber die Weihnachtsfeiertage miteinander zu verbringen, um sich gegenseitig zu zerfleischen, war definitiv keine gute Idee.

Hatte der Vater John gegenüber in der Vergangenheit meist eine dunkle und unangenehme Seite, mit Unverständnis und zeitweise sogar Desinteresse, hauptsächlich aber Abneigung gezeigt, so schien Dave hingegen in jeder Hinsicht in Patrick Sheppards Gunst zu stehen.

Natürlich. Warum auch nicht? David Sheppard schien geradezu der perfekte Sohn eines reichen Industriellen zu sein. Ein Vorbild sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben. Bachelor-Abschluss mit Auszeichnung an der Harvard University, passionierter Golfspieler, der sich mit den Reichsten und Mächtigsten dieser Erde zu regelmäßigen Spielen traf und sich auch sonst für keine Charity-Aktion zu schade war. Zudem auch ein knallharter und erfolgreicher Geschäftsmann und Daddys Stellvertreter, glücklich verheiratet mit einer der schönsten Frauen, die John je gesehen hatte und selbst Vater eines kleinen, süßen Mädchens, das von Vater und Großvater vergöttert und nach Strich und Faden verwöhnt wurde. Gut aussehend, gebildet, reich und heterosexuell, rundum das Profil eines perfekten Mannes.

Wer sollte da mithalten können? Zumindest in letzterer Hinsicht konnte John ihm nicht entgegenkommen. Patrick Sheppard war es ein Dorn im Auge, dass sein ältester Sohn bis heute keinerlei Interesse an einer Ehe mit einer Frau zeigte.

Dave hingegen schien es nicht zu stören, im Gegenteil. John war manchmal sogar richtig gerührt von Daves aufrichtigem Interesse und seiner Fürsorge.

„Die Ausrede mit dem Jahresabschlussbericht hat letztes Jahr schon nicht mehr funktioniert. Wir wissen alle, dass du diese Sache immer auf die lange Bank schiebst, nur um eine Ausrede zu haben, nicht zu erscheinen. Aber diesmal besteht Dad darauf … John, er will es aus der Welt räumen.“

„Das wollte er letztes Mal schon. Das Resultat kennst du ja.“

„Wer sagt denn, dass es diesmal genauso abläuft?“

„Die Erfahrung, Dave. Es läuft jedes Mal so ab. Es ist nicht so, dass ich absolut nicht bei euch sein will, und gegen einen kurzen Besuch bei euch spricht auch nichts. Im Gegenteil. Ich vermisse Claire und Mira und ich würde sie gerne wieder sehen. Und ich … ich vermisse auch Dad, ja. Ich liebe unseren Dad, das weißt du. Ich liebe ihn, ich respektiere ihn, und ja, ich sehe auch zu ihm auf. Wir beide wissen, er ist ein guter Mann, ein großartiger Mann.“

„Das ist wahr“, stimmte Dave zu. „Er ist immer für uns da. Wir können uns mit ihm über alles unterhalten.“

„Letzteres trifft nur auf dich zu, Dave“, gab John zurück. „Sobald ich da bin, höre ich nur seine Geschäftsprinzipien, die er mir immer und immer wieder vordiktiert. Ich halte mich an sie, das weißt du, das weiß er … jeder weiß das. Aber sobald aus ein paar Stunden mehr wird, wird er persönlich. Ich kann verstehen, dass es einem Mann, einem Vater seiner Generation schwerfällt, sich mit einigen Dingen abzufinden, aber das, was er dann jedes Mal abzieht … das grenzt an Homophobie. Ich kann eine Menge ertragen, was er mir so entgegen schleudert, Dave, aber ich habe wirklich keine Lust mehr, das andauernd und andauernd durchzukauen. Schon gar nicht an Weihnachten … nicht in Moms Haus“, erklärte John kopfschüttelnd und konnte nicht verhindern, dass in seinen letzten Worten eine unsägliche Traurigkeit mitschwang, die auch Dave erfasste.

Eine ganze Weile schwiegen die Brüder vor sich hin, nippten an ihrem Kaffee und knabberten an ihrem Frühstück. Auch wenn es schon mehr als ein Jahrzehnt zurücklag, so saß die Trauer um den Verlust der Mutter noch immer sehr tief und wurde nie richtig überwunden.

„Er hat sich verändert.“

„Da bin ich sicher. Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer.“

„Nein, John. Ich … es gibt etwas, das ich dir sagen muss. Eigentlich habe ich Dad versprochen, nichts zu sagen, aber ich denke, er hat Unrecht, es vor dir verheimlichen zu wollen“, brachte Dave hervor. „Es wäre nicht fair.“

John stutzte, sagte aber nichts. Sein Blick reichte aus, um seinen Bruder zum Weiterreden zu animieren.

„Er ist krank, John.“

„Krank? Etwas Ernstes?“

„Würde ich sagen. Es ist sein Herz. Vor etwa 3 Monaten, wir hatten gerade ein Geschäftstreffen hinter uns gebracht und gingen noch ein paar Berichte durch, da fiel mir auf, dass er ziemlich blass und erschöpft wirkte. Ich habe ihn darauf angesprochen, aber er winkte nur ab. Du kennst ihn ja.“

John prustete und nickte nur. Die Sturheit des ältesten Sheppard-Mannes und sein Drang, alles herunterspielen zu müssen, waren legendär. Manche behaupteten sogar, dass John diese Eigenschaften geerbt hätte. Er hatte immer nur müde darüber lächeln können.

„Keine halbe Stunde später stöhnte er plötzlich auf, griff sich an die Brust und brach zusammen“, fuhr Dave fort und sah, wie John sich aufsetzte. Seinem Bruder wich die Farbe aus dem Gesicht, die Augen wurden groß und die Kiefer mahlten. „Im Krankenhaus sagte man mir, dass er eine leichte Herzattacke erlitten hätte und dass es jederzeit wieder passieren könne.“

„Scheiße … Dave … wieso … wieso hast du mir nichts davon erzählt, als ich letztens bei euch war? Wieso hast du nicht angerufen? Ich wäre doch rübergekommen!“

„Sagte ich doch schon. Erst ging alles drunter und drüber und dann wollte Dad nicht, dass du es erfährst. Über die Gründe kann ich nur spekulieren, obwohl ich eher davon überzeugt bin, dass es eigentlich keine gibt. Du magst Recht haben, dass er seine Schwierigkeiten hat, was deinen … dein Leben betrifft, aber … die Diagnose hat ihn dann doch verändert.“

„Diagnose? Was haben die Ärzte sonst noch gesagt? Wie kam es zur Herzattacke? Ich meine, so was kann doch nicht aus heiterem Himmel kommen. Hat er sich wieder mit jemandem angelegt und sich zu sehr aufgeregt?“

„Nein, nichts dergleichen. Die Ärzte meinten, es sei eine Herzschwäche, eine angeborene Herzschwäche, die erst jetzt entdeckt wurde. Ich wollte es zuerst nicht glauben, aber wenn man bedenkt, dass er nie ernstlich krank war und auch sonst kaum zu Ärzten ging, wenn er nicht gerade den Kopf unterm Arm trug …“

„Wie lange … wie lange hat er noch?“, wollte John wissen, nachdem er erst einmal versuchte, den Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken. Doch der saß fest.

„Kann man nicht sagen. Die Ärzte haben ihm Medikamente verschrieben, die er täglich einnehmen muss, und meinten, dass er unbedingt sein Stresslevel senken solle. Wenn er ein bisschen mehr auf sich achtet, kann er gut und gerne noch viele Jahre haben. Claire bewacht ihn seitdem mit Adleraugen und sorgt dafür, dass er immer seine Pillen nimmt und es nicht übertreibt. Du kennst sie ja.“

Auch wenn der anfängliche Schock sich nicht so wirklich legen wollte, so war es doch tröstlich zu wissen, dass der Vater bei seinem Bruder und seiner Schwägerin in guten Händen war. Claire konnte rigoros sein, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Sie war eine starke, taffe Frau, die wusste, was sie wollte und vor allem, wie sie es bekäme. Eigenschaften, die sowohl Patrick als auch Dave bei einer Frau sehr schätzten. Vielleicht, weil auch einst deren Frau und Mutter eine starke Persönlichkeit besessen hatte.

„Woran denkst du?“, wollte Dave wissen, als ihm das Grinsen seines Bruders auffiel.

„An Dads Gezeter. Er hat keine Chance gegen Claire“, erklärte John und lachte dann mit seinem Bruder.

„Nein, da hast du recht. Vielleicht mache ich mir deswegen nicht mehr ganz so viele Sorgen um ihn. Ihm geht es gut, John. Ich versuche gerade ihn dazu zu bewegen, sich ein bisschen mehr aus dem Geschäft zurückzuziehen und mal zu entspannen. Ich war bei genügend Geschäftstreffen und Verhandlungen und Vorstandssitzungen, um zu wissen, wie der Hase läuft und du auch. Er selbst spricht sogar gelegentlich davon, sich zurückzuziehen und die Zügel abzugeben. Aber die Expansion und noch etwas Wichtigeres lassen ihm seit der Attacke keine Ruhe mehr und das bist du, John.“

„Dave …“, stöhnte John noch immer wenig begeistert.

„John, wann hast du das letzte Mal erlebt, das Dad heulte, oder überhaupt Tränen in den Augen hatte? Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern und ich glaube, ich muss dir nicht sagen, wann das war. Ich habe ihn seitdem nicht mehr so … na eben so erlebt. Vielleicht hat die Attacke etwas in ihm ausgelöst oder es liegt an den Pillen … ich weiß es nicht. Aber er hat wirklich wie ein kleines Baby geheult und kaum ein verständliches Wort hervor gebracht. Ich dachte … ich dachte, er bricht mir gleich wieder zusammen und dann wäre es endgültig aus mit ihm … Er will dich wirklich gerne wieder sehen. Es reicht ihm nicht, dass du seine Zweigstellen führst und überwachst und dich hin und wieder kurz meldest. Er will dich sehen. Öfter, länger. Er will dich in der Nähe haben und er will mit dir reden. Er will es wirklich klären. Vielleicht glaubt er, keine Zeit mehr zu haben oder so was. Vielleicht weiß er etwas oder ahnt zumindest etwas, was uns nicht in den Sinn kommen kann oder will. Erst neulich hat er mir gesagt, dass er vieles, das er sagte oder getan oder auch nicht getan hat, bereut. Dass er sich falsch verhalten hätte und dass er … dass er dir nicht der Vater war, den du gebraucht hättest. John, ich bitte dich – komm über Weihnachten nach Belcarra, zu deiner Familie. Sprich mit ihm. Gib ihm die Chance, alles zu klären.“

John seufzte, als er sich aus seinem Sessel erhob und zum großen Fenster hinüber schlenderte. Mit den Händen in den Hosentaschen sah er nachdenklich hinaus über die Stadt bis hin zum Horizont, der im goldenen Licht des Sonnenaufgangs erstrahlte. Doch sein innerer Kampf nahm allmählich zu epische Ausmaße an, als dass er dieses schöne Naturschauspiel in Ruhe verfolgen konnte.

„Ich glaube, das wäre auch Moms Wunsch. Sie hat es immer geliebt, Weihnachten in Belcarra zu feiern. Sie hätte es nie zugelassen, dass ihr euch derart in die Wolle kriegt, wegen irgendwelcher Entscheidungen.“

„Wahrscheinlich wäre vieles anders gelaufen, wenn sie noch da wäre“, murmelte John gedankenverloren.

„Ja, gut möglich. Ich denke, Dad hat nicht ohne Grund entschieden, die Feiertage wieder dort zu verbringen. Er meinte damals, er würde alles rückgängig machen, wenn er nur könnte. Aber das geht nicht, also will er es zumindest wieder gut machen. Wenn du ihn lässt“, antwortete Dave und gesellte sich neben seinen Bruder. „Lyle würde es bestimmt auch gefallen. Oder nicht?“

Noch immer zuckte John bei der Erwähnung dieses Namens zusammen. So viele Jahre waren schon vergangen, doch der Verlust schien immer noch tief in seiner Seele zu schmerzen. John sah zu seinem Bruder, überlegte, ihn zurechtzuweisen, ihn zu ermahnen, nicht zu weit zu gehen und seinen Namen niemals wieder zu erwähnen, doch er konnte wieder nichts anderes als Mitgefühl und Anteilnahme in den Augen des jüngeren Bruders erkennen.

„Sag Dad und Claire … ich werde da sein.“

„Wirklich? Dann wirst du Weihnachten also mit uns verbringen? Dad und Claire werden sich freuen und Mira fragt ohnehin tagtäglich nach ihrem Onkel und wünscht sich nichts sehnlicher, als mit ihm Schlitten zu fahren und Schneemänner zu bauen.“

„Sag Mira, ihr Onkel wird Weihnachten bei ihr sein und ganz viele Schneemänner mit ihr bauen. Und wenn wir mit Frau Holle über eine extra Ladung Schnee verhandeln müssen.“

~~~

Dave hatte zwar schon vor mehr als einer Stunde das Büro verlassen, doch John kämpfte noch immer gegen den Schock, den die Nachricht über die Herzattacke seines Vaters hervorgebracht hatte. Seine Gedanken waren unstet, wanderten in die Vergangenheit, in die Zukunft und wieder zurück zur Gegenwart. So vieles war schon geschehen, so vieles wurde getan oder unterlassen, so vieles wurde gesagt und so viel wurde verletzt … John fragte sich, warum es dieses Mal anders sein sollte.

Aber Dave war noch niemals ein Mann, der übertrieb, etwas mehr aufbauschte, als es für die Sache gut war oder gar log. Nein, so hinterlistig war er niemals. Wenn er sagte, dass es Dad nicht gut ging, dann stimmte es. Verdammt, wahrscheinlich war es sogar noch untertrieben.

Nur was hatte es mit Dads plötzlichen Reuegefühlen auf sich? Sollte er tatsächlich das Ende nahen spüren? Himmel, so alt war ihr Vater doch noch gar nicht. Gerade mal Mitte sechzig, das war doch kein Alter für einen Mann. Musste er nun wirklich davon ausgehen, dass es Patrick Sheppard tatsächlich leid tat, wie die Vergangenheit gestaltet wurde?

Je mehr John darüber nachdachte, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass es nur einen Weg gab, der Sache auf den Grund zu gehen. Kurz entschlossen tippte er auf die Sprechtaste seines Telefons.

„Leanne, kannst du mir bitte einen Gefallen tun, und mir einen Flug nach Vancouver buchen? … Nein, nicht heute. Morgen oder übermorgen reicht völlig. Ich werde Weihnachten in Belcarra verbringen.“

Eine halbe Stunde später hatte er die Bestätigung eines Fluges für den nächsten Tag auf dem Schreibtisch liegen. Das Angebot seines Bruders, ihm den Privatjet zu schicken, hatte er dankend abgelehnt, aber gegen einen Wagen mitsamt Fahrer, der am Flughafen auf ihn warten würde, konnte er nicht ankommen.

19. Dezember – Flughafen Los Angeles, Kalifornien

Es war früh am Morgen, als Rodneys Maschine aus Denver landete. Da es nur ein kurzer Aufenthalt im sonst sonnigen Kalifornien sein sollte und er auch nicht viel Gepäck bei sich hatte, abgesehen von einer kleinen Reisetasche und dem sperrigen Teddybär, der sich schwer tat durch die Röhre des Röntgenapparates zu passen, war ihm ein stundenlanges Anstehen an der Gepäckausgabe erspart geblieben und so konnte er sich bis zum nächsten Check-In für die Maschine nach Vancouver noch in die hinterste Ecke eines Starbucks setzen und an seinem Laptop arbeiten.

Dumm war nur, dass sich Rodneys Hoffnung auf ein wenig Abgeschiedenheit in dieser kleinen Ecke schnell in Luft auflöste, als sowohl das Handy seines Tischnachbarn als auch dieser selbst einfach nicht zur Ruhe kommen wollten. Der andauernde schrille Klingelton konnte einen ja schon in den Wahnsinn treiben, aber die Stimme des Mannes selbst war einfach unerträglich und störte seine Konzentration ungemein.

Gerade als Rodneys Geduld endgültig am Ende zu sein schien, stand sein Tischnachbar auf und ging. Endlich konnte er sich nach einem Blick auf seine Uhr wieder seinen Berechnungen widmen. Zunächst fiel es ihm auch leicht, die Gespräche und den Trubel um sich herum auszublenden und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. So hatte er hier und da ein paar Anmerkungen in seine Berechnungen eingefügt und neue Notizen angehängt. Zwar machte er nur kleine Fortschritte in seiner Theorie, aber Rodney war dennoch zufrieden.

Es würde ein Meisterwerk werden, sein Meisterwerk. Es würde die größte Errungenschaft der Menschheit werden und ja, der Nobelpreis wäre ihm sicher. Bliebe nur noch das Problem, seine Theorie auch in die Praxis umsetzen zu können. Diese Theorie alleine war ja schon gewagt, aber das Ganze in die Praxis umsetzen zu wollen, wäre ein gigantisches Unterfangen, an das sich wohl nur die wenigsten Investoren und Forschungslabore heranwagen würden. Aber das wäre ein Problem, das noch gut und gerne ein Jahr oder länger auf die lange Bank geschoben werden konnte.

Ein Blick auf die Abflugstafel in der Halle verriet ihm, dass sein Flug über eine Stunde Verspätung haben sollte. Großartig, das hatte gerade noch gefehlt. Rodney spürte, wie seine mühselig aufrecht gehaltene gute Stimmung langsam in den Keller rutschen sollte. Erst konnte dieser unfähige Typ hinter dem Ticketschalter seine Reservierung für seinen Flug nicht finden, und ließ ihn doch tatsächlich fast zwanzig Minuten warten, dann wurde er durch die grölende Stimme und das penetrante Klingeln des Handy-Man mürbe gemacht und nun das. Das war wirklich nicht sein Tag. Das war noch nicht einmal seine Woche.

Rodney hatte gerade selbst sein Handy am Ohr und informierte seine Schwester über seine verspätete Ankunft, als er seinen Blick durch das Café schweifen ließ und dieser an einem großgewachsenen, dunkelhaarigen Mann hängen blieb, der gerade am Tresen stand und auf seinen bestellten Kaffee wartete.

Rodney schenkte seiner Umgebung normalerweise recht wenig Beachtung, schon gar nicht, wenn er mit seiner Arbeit beschäftigt war. Daher verstand er zunächst nicht so recht, warum er gerade bei dem Anblick dieses Mannes hängen blieb.

„Äh … ja, Jeannie. Ich melde mich am besten noch mal kurz vor dem definitiven Abflug … bis dann.“

Rodney klappte sein Handy zu, steckte es wieder zurück in seine Jackentasche und sah, wie dieser gut aussehende Mann der Bedienung eines jener Lächeln zeigte, das die üblichen Frauenschwärme drauf hatten. Dann nahm er seine Tasche wieder auf, griff nach seinem Becher, drehte sich um und … Himmel, war der Kerl gut aussehend. Groß, schlank und muskulös, aber nicht zu sehr, wie es seine dunkle Jeans und sein helles Hemd verrieten, die sich bei jeder Bewegung sanft an seinen Körper schmiegten. Das dunkle Haar, das an seinem Oberkopf wild in alle Richtungen abstand, wobei ihm immer noch einige Strähnen in die Stirn fielen. Richtig verwegen. Und diese Augen …

Es war aber auch zu schade, dass dieser Kerl offenbar ein Kirk zu sein schien. Mit diesem frechen Grinsen und diesem Blick konnte nur ein Frauenschwarm flirten und somit spielte er nicht in Rodneys Liga. Schade schade. Vor allem wegen der Augen … Rodney versank geradezu in diesen haselnussfarbenen Augen, in denen er sich zu gerne verlieren würde. Und nun kamen sie geradewegs auf ihn zu.

Rodney schluckte, ließ seinen Blick schnell wieder auf die Tastatur seines Laptops sinken und hoffte und betete. Hoffte, der Mann würde zu ihm kommen, betete, er würde es nicht, dann betete er, er möge zu ihm kommen und hoffte, er würde es doch wieder nicht.

Rodney beobachtete aus dem Augenwinkel, wie der Mann sich neben ihn an den freien Tisch setzte und als erstes sein Handy aus der hinteren Hosentasche nahm. Kein besonders sicherer Ort für ein solch teures Gerät, dachte sich Rodney. Aber es war ja schließlich nicht sein Problem. Dennoch fragte er sich, ob sich das Theater von vorhin wiederholen würde und er wieder der Folter eines Handy-Psychopathen ausgesetzt wäre.

Überraschenderweise besaß der Mann jedoch eine angenehme Stimme. Eine sehr angenehme sogar und Rodney ertappte sich selbst beim Belauschen. Dummerweise verstand er den Großteil des Gesprächs nicht, denn just in diesem Moment musste dem Service-Personal ein Tablett mit Geschirr runterfallen, was die Anwesenden als Aufforderung zum Klatschen auffassten.

„Ja … ja, ist gut, Dave. Ich kümmere mich noch schnell darum und kann ihm dann die Berichte selbst geben, wenn ich da bin … ja, ich melde mich wieder.“

Ein wenig enttäuscht widmete sich Rodney wieder seiner Arbeit, doch er ertappte sich immer wieder selbst dabei, wie er zur Seite schielte. Beruhigt stellte er fest, dass der Mann offensichtlich ebenfalls Wert auf Ruhe und Ungestörtheit legte, denn er konnte sehen, wie er das Handy ausschaltete und wieder in seine Tasche steckte. Dann widmete er sich seinem Aktenkoffer, der sogar nicht dem klassischen Modell eines Koffers entsprach.

Rodney konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser Kerl in seiner Tätigkeit zur Riege der Aktenkofferträger gehörte, doch die Listen und Dokumente mit den vielen Zahlen sprachen eine andere Sprache. Besonders überraschte ihn jedoch die Tatsache, dass der Mann seine Berechnungen ohne irgendein Hilfsmittel wie Taschenrechner oder sonstiges ausführte. Zugegeben, es waren keine komplexe mathematische Formeln, so viel konnte Rodney erkennen, aber die Zahlen waren nicht gerade klein. Hier musste es sich offenbar um ein kleines Mathe-Genie handeln.

Rodney zog die Augenbrauen kraus und kümmerte sich lieber wieder um seine eigenen Zahlen und Formeln.

„Was dagegen?“, ertönte eine Stimme.

Rodney sah zur Seite, von der die Stimme zu kommen schien, und verschluckte sich fast an seinem Kaffee, als ihn die haselnussfarbenen Augen erwartungsvoll anblickten. Sein Blick folgte den Augen hin zur Schulter, herüber zum Arm und der Hand, die den Zuckerstreuer auf seinem Tisch hielt.

„Ich hatte zwar mit Zucker bestellt, aber offenbar muss etwas schief gelaufen sein“, lautete die genauere Erklärung des dunkelhaarigen Mannes.

„Hm? Oh, ja … nein, nein … bitte, bedienen Sie sich.“

Dankbar lächelnd widmete sich der Mann dem Zuckern seines Kaffees und stellte den Zuckerstreuer gleich wieder zurück auf Rodneys Tisch.

„Wow, das sieht ziemlich kompliziert aus …“, fuhr der Tischnachbar fort, als er einen Blick auf Rodneys Laptop erhaschen konnte und Rodneys musternder Blick ihn traf. „Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht bespitzeln.“

„Hm? Oh das … ja, das ist nur so ein kleines … Projekt. Nichts Wichtiges. Überhaupt nicht wichtig.“

Ein Nicken, gefolgt von einem Lächeln brachte wieder Schweigen zwischen die beiden Männer und Rodney war es fortan nicht mehr möglich, sich auf irgendetwas anderes als auf diese verwuschelte Frisur des Mannes neben ihm zu konzentrieren.

So etwas war ihm schon lange nicht mehr passiert. Zumindest nicht in diesem Ausmaß. Rodney traf schon öfter auf Männer, die er attraktiv fand, was hin und wieder auch auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber es reichte niemals zu mehr. Vielleicht ein kurzer Small Talk, manchmal auch kleiner unschuldiger Flirt, wenn das Gefallen doch etwas offensichtlicher war, aber dabei blieb es zumeist und die letzte nennenswerte Beziehung lag auch schon eine halbe Ewigkeit zurück.

Aber wieso bei allen Physikern, irritierte ihn dieser Schönling neben ihm derart? Zumal die Interaktion gerade mal einige Momente andauerte und die gesprochenen Worte an zehn Fingern abgezählt werden konnten. Rodney glaubte auch nicht an Liebe auf den ersten Blick und doch ließ ihm der Gedanke daran plötzlich keine Ruhe mehr. Was, wenn es so etwas wie Karma oder Schicksal wirklich gäbe? Saß dort sein Schicksal? War er vielleicht doch kein Kirk? Und wenn doch, wäre er sein Kirk?

Seit seinem Outing wusste Rodney, es konnte böse enden, einfach anzunehmen, das Interesse sei von Gegenseitigkeit. Er wusste nichts über diesen Mann. Himmel, er könnte sogar ein Verbrecher sein!

Aber da war wieder diese Stimme in seinem Inneren, die ihn einen Narren schalt und ihn kaum merklich mit dem Kopf schütteln ließ. Da war sie wieder, seine Angst. Angst vor dem Gelächter, Angst davor, als kompletter Narr dazustehen, Angst vor Zurückweisung, Angst vor verletzten Gefühlen … Angst vor etwas, dass er vermutlich selbst nicht einmal benennen konnte.

Aber verdammt! Sollte es denn für den Rest seines Lebens so weiter gehen? Es musste ja nicht die große Liebe sein, ein One-Night-Stand stand auch nicht gerade auf seiner To-do-Liste, obwohl … bei diesem Augenschmaus man doch mal eine Ausnahme machen könnte, oder? Und selbst wenn es bei aller Vorsicht noch nicht einmal zu einem Flirt kommen sollte, so könnte es doch einfach nur ein netter Small Talk werden.

„Inventur?“, fragte Rodney nach unzählig erscheinenden Minuten.

„So was in der Art, ja. Jahresabschlussbericht“, antwortete ‚Kirk‘. „Bin ein bisschen spät dran damit, aber so läuft es jedes Jahr. Man kommt einfach nicht dazu.“

„Und der Boss schiebt Ärger, hm?“

„Nein, eigentlich nicht“, antwortete der dunkelhaarige Kirk lächelnd. „Aber Geduld ist auch nicht gerade eine Tugend in dieser Familie.“

„Ein Familienbetrieb also“, spekulierte Rodney und hoffte, das Gespräch so lange wie möglich führen zu können. Je mehr er herausfand, umso besser.

„Ein Unternehmen.“

„Und Sie sind … Manager?“, fragte Rodney weiter und hoffte, nicht zu aufdringlich zu sein. Das wurde ihm schon früher oft zum Verhängnis. Auf ein weiteres Mal konnte er gut verzichten.

„Geschäftsführer … stellvertretender Geschäftsführer einer Zweigstelle.“

„Ah“, brachte Rodney hervor und das war vorerst alles, was ihm in den Sinn kam.

Stellvertretender Geschäftsführer einer Zweigstelle in einem Familienunternehmen … und den Zahlen nach, war es offensichtlich nicht gerade ein kleines Unternehmen. So viel hatte Rodney erkennen können. Und wenn man bedachte, dass dieser Mann offenbar alles im Kopf errechnete, schien er entweder äußerst fähig zu sein, weshalb man ihm diesen Posten gab und nicht irgendeinem Familienmitglied, oder er war selbst ein Mitglied dieser scheinbar erfolgreichen Familie. Was wohl nahe lag. Auf jeden Fall hatte er was im Kopf und Intelligenz war schon immer eine Eigenschaft, die anziehend auf ihn wirkte.

Zu gerne würde Rodney dem weiter auf den Grund gehen, aber das wäre wohl ein Tick Neugier zu viel und so entstand wieder ein langes Schweigen.

Rodney fluchte innerlich. Es hatte doch so gut angefangen und der Mann machte mittlerweile auch nicht mehr den Eindruck eines Verrückten oder gewalttätigen Soziopathen. Aber es waren immer noch zu wenig Infos, um seine Hoffnung zu einer Annahme zu machen und einen Schritt weiter zu gehen. Seine nicht vorhandene Begabung zum Small Talk machte ihm schon wieder einen Strich durch die Rechnung.

John hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit den blauesten Augen, die er seit Langem gesehen hatte.

Eigentlich hatte John seine Wartezeit bis zu seinem Flug nur mit einem Kaffee und dem Abschluss seines viel zu späten Jahresberichts verbringen wollen. Doch das Starbucks war ein recht gut besuchtes Café und John konnte froh sein, diesen einen Sitzplatz neben einem ebenfalls beschäftigt wirkenden Mann zu erhaschen.

Doch dann hatte er einen genaueren Blick zu dem Mann riskiert. Schlagartig hatte er wieder Lyle vor sich gesehen und musste gegen den enormen Kloß schlucken, der in seiner Kehle festsaß. Auch Lyles Augen erstrahlten einst in einem Stahlblau, doch die seines Tischnachbarn … sie waren geradezu hypnotisierend. Dann noch das dunkelblonde Haar, die breiten Schultern und wenn er sich nicht verguckt hatte, schien er weder rappeldürr noch bullig-muskulös, eher ganz leicht untersetzt zu sein. Nicht schlecht. Ganz und gar nicht schlecht. Wenn er recht bedachte, entsprach er schon seinem eigentlichen Beuteschema. Wenn er denn auf Beutezug wäre.

John suchte nicht wirklich nach einer neuen Partnerschaft, geschweige denn nach einem Partner. Der Verlust saß einfach noch zu tief und John hatte keinerlei Interesse, das Wohl eines Mannes und einer Beziehung durch seine Trauer und den Versuch, Lyle irgendwie zu ersetzen, zu riskieren oder gar zu schädigen. Das hätte keiner der beiden verdient.

Aber verdammt, dieser Mann pushte seine Trigger schon ganz schön.

„Ingenieur?“, fragte John, um die Konversation wieder anzufachen. Er wollte mehr über diesen Mann wissen und hatte irgendwie das Gefühl, dass dieser Mann sich sonst eher nicht so zurückhaltend verhielt.

„Wie bitte?“, fragte sein Tischnachbar und wirkte aufgeschreckt.

„Sind Sie Ingenieur?“, wiederholte John und wies auf den Laptop mit den vielen komplizierten Formeln.

„Ja, nein … Ja, ich bin auch Ingenieur. Aber meine Haupttätigkeitsfelder sind die Physik und die Astrophysik.“ Oder sie waren es wohl eher …, führte Rodney im Geiste fort.

Johns Augenbrauen wanderten bewundernd nach oben. Nicht nur gut aussehend, sondern auch noch intelligent. Noch mehr anziehende Eigenschaften. Wären da doch bloß nicht seine Zweifel und seine Zurückhaltung und seine Angst vor einer schmerzhaften Wiederholung der Vergangenheit.

Wie so oft in der Vergangenheit musste John sich selbst ermahnen. Seine Vergangenheit mochte vielleicht vergangen sein und er führte nun ein anderes Leben, das so manches Risiko minimierte, aber wer wusste schon, wie dieser Mann gestrickt war. Die Sorge, jemanden ins Unheil zu stürzen, rumorte noch immer tief in ihm. Aber gegen einen netten unverbindlichen Plausch sollte jedoch nichts einzuwenden sein.

„Und … gehört Ihr Boss auch zu den weniger geduldigen oder warum tippen Sie so eifrig auf Ihrem Computer herum? Man könnte meinen, Ihr Leben hinge davon ab.“

„Weder noch und doch beides“, antwortete Rodney und bemerkte sofort den stutzenden Gesichtsausdruck seines Nachbarn. „Mein Boss gehörte sicherlich zu der Sorte, die unter anderem nicht mit Geduld gesegnet waren, aber das hier … das ist mein eigenes kleines Projekt.“

„Gehörte?“, hakte John nach.

„Ja. Sagen wir einfach, unsere Vorstellungen über die Einbringung meines Wissens und Könnens, ganz zu schweigen meiner persönlichen Projekte und Rechte stimmten nicht überein, also … kümmere ich mich von nun an um mein eigenes Leben, dass ich mir über Weihnachten zurecht rechnen und schmieden werde.“

„Klingt nach einem guten Plan.“

„Ja. Aber so wie ich meine Schwester kenne, hat sie ganz andere Pläne, die ebenfalls meist nicht mit den meinigen übereinstimmen. Hach … das wird wieder eines dieser aufreibenden Feste … hätte ich bloß nicht zugesagt“, murmelte Rodney zum Schluss gedankenverloren, was John abermals schmunzeln ließ.

„Weihnachten mit der Familie, hm? Bei Ihnen klingt es, als würde es in einem Desaster enden. Haben Sie deswegen dieses Ungetüm dabei?“, brachte John hervor, und wies auf den Riesen-Teddy, kurz bevor seine Gedanken zu seiner eigenen Familie und den damit behafteten Problemen wanderten.

„Der ist für meine kleine Nichte. Vielleicht besteht bei ihr ja noch Hoffnung, nun wo meine Schwester alles hingeschmissen hat. Mal ehrlich. Sie hatte eine Zukunft. Sie hätte einiges erreichen können in der Physik. Gut, vielleicht nicht in meiner Liga. Aber so dumm war sie auch wieder nicht, bis sie auf diesen Englisch-Lehrer-Mann traf, sich von ihm schwängern ließ und ihn dann auch noch heiratete. Einige teure Jahre am MIT und ein akzeptabler Verstand vergeudet … einfach so … für die Illusion einer Familie.“

Wieder musste John lächeln und unterdrückte ein Kopfschütteln. Der Mann zeigte zwar teils arrogante Züge, war sehr von sich eingenommen und auch nicht gerade auf den Mund gefallen und doch war da noch etwas anderes an ihm, das John immer mehr faszinierte. Vielleicht war es diese plötzliche Offenheit, die er zeigte. „Tja, die Menschen haben unterschiedliche Vorstellungen vom Leben und dem Glück und dem ganzen Rest.“

„Die Vorstellungen meiner Schwester kenne ich nur zu gut. Neulich meinte sie doch glatt, dass sie sich noch ein Kind wünscht. Mal ehrlich. Maddie ist mittlerweile alt genug, um in eine Kindergrippe oder in eine Ganztagsbetreuung zu gehen und Jeannie könnte wieder studieren oder einen guten Job in einem Labor oder so was annehmen.“

„Warum sollte sie? Wenn sie mit diesem Leben doch glücklich ist …“ gab John achselzuckend zurück und Rodney wurde mit einem Mal bewusst, dass er mal wieder viel zu viel aus dem Nähkästchen geplaudert hatte. Einfach so!

Warum, wusste er selbst nicht so recht, aber es war bestimmt nicht gut, auch wenn er sich in der Gegenwart dieses Fremden doch recht wohl zu fühlen schien. Das war schon ein kleines Mysterium, wenn man bedachte, dass er diesen Mann im Grunde gar nicht kannte. Vielleicht lag es an seiner lockeren Einstellung. Er schien ein Mann zu sein, der die Dinge nicht allzu ernst nahm und doch schwang in allem diese Verwegenheit mit.

Ein Jammer, aber es wäre wohl besser, den Mund zu halten und so schnell wie möglich das Weite zu suchen, wenn er nicht von dem kleinen Fettnäpfchen ins nächstgrößere oder womöglich das größte, das natürlich nur mal wieder er finden konnte, hineintrat. Außerdem, warum sollte er sich noch weiter mit diesem Mann unterhalten, wenn er höchstwahrscheinlich doch nicht seiner Kragenweite entsprach und er ihn wohl auch niemals wiedersehen würde?

„Ja … ja, schon möglich. Es war nett, mit Ihnen zu plaudern. Ich … ich muss nun zusehen, dass ich meinen Flug bekomme, bevor sie ihn wieder verschieben oder … oder Schlimmeres“, stotterte Rodney vor sich hin und packte in Windeseile seine Siebensachen zusammen.

Ehe John sich versah, war sein Tischnachbar aufgesprungen, stieß sich das Knie an einem der Stühle, so dass John nur gerade noch mitfühlend das Gesicht verziehen konnte, als er die Flüche des Mannes hörte und schon war er hinaus gerauscht. Er hatte ihm nicht einmal eine gute Reise wünschen können.

John sah auf die Uhr und bemerkte, dass ihm noch gut und gerne eine Dreiviertelstunde blieb, bevor er zu seinem Check-In musste. Dabei fragte er sich aber auch, welchen Flug sein Tischnachbar wohl erwischen wollte, denn so bald würde kein Flug gehen. John seufzte und zuckte kaum merklich mit den Achseln. Schade, er hätte sich zu gerne noch ein wenig länger mit diesem Mann unterhalten.

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Wie von der Tarantel gestochen, jagte Rodney durch die Gänge des Flughafens und nahm Kurs auf die nächstbeste Toilette. Auch wenn er es tunlichst vermied, diese sanitären Anlagen zweckgemäß zu gebrauchen – man wusste ja schließlich nie, welcher Hintern schon darauf gesessen hatte – so war es doch dringendst angebracht, sich die Hände zu waschen und sich auch etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu werfen. Irgendwie war ihm ziemlich warm und Rodney war sich sicher, dass es bestimmt nicht am Kaffee und an seiner jüngsten Jagd quer über das halbe Flughafengelände lag.

So weit käme es noch, dass er sich Hals über Kopf und hoffnungsvoll in irgendeinen Adonis verknallte, der im Grunde doch nichts weiter als eine flüchtige Bekanntschaft vom Flughafen darstellen sollte. Rodney zog es vor, die restliche Zeit lieber im Wartebereich des Check-In zu verbringen und nicht mehr an den gut aussehenden Tischnachbarn aus dem Starbucks zu denken. Oder Ausschau nach ihm zu halten.

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Eine halbe Stunde später sollte John seine Entscheidung bereuen, das Angebot seines Bruders ausgeschlagen und sich stattdessen auf einen kommerziellen Flug verlassen zu haben. Durch Zufall hatte er auf der Anzeigetafel im Gang neben dem Café gesehen, dass sein Flug gecancelt wurde. John fluchte innerlich, wollte der Sache aber auf den Grund gehen und sich nach dem nächsten Flug erkundigen. Doch er stellte schnell fest, dass es wohl nicht so einfach werden sollte. Immerhin war er nicht der einzige Betroffene und während er so in der langen Schlange vor dem Check-In-Schalter stand, erreichten ihn nicht nur die ersten Gerüchte für den stornierten Flug. Nein, da war eine aufgebracht klingende Stimme, die ihm irgendwie bekannt vorkam. John sah sich um und erblickte tatsächlich zwei Schalter weiter seinen Gesprächspartner aus dem Starbucks.

„So eine Unverschämtheit! Erst wird der Flug ewig lange verschoben und nun canceln Sie einfach den Flug nach Vancouver. Und als sei das nicht schon ärgerlich genug, stornieren Sie gleich alle Flüge mit der traurigen Entschuldigung einer Terrorwarnung! Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?!“, entfuhr es Rodney aufgebracht.

„Nein, Sir“, antwortete die Flughafenmitarbeiterin gelassen. „Aber wenn Sie wünschen, kann ich gerne eine flughafenweite Durchsage machen. Vielleicht findet sich ja jemand, der Ihnen bei Ihrer Identitätsfindung behilflich sein kann.“

John schien nicht der Einzige zu sein, der das plötzliche Verlangen spürte, lauthals loslachen zu müssen. Er schaffte es jedoch, sich noch rechtzeitig auf die Zunge zu beißen. Auch wenn er bezweifelte, dass dieser Mann in seiner Aufregung Augen für die Umgebung hatte, so wollte er doch kein Risiko eingehen und ihm kein verspottendes Lachen zeigen. Abgesehen davon konnte er die Verärgerung selbst nur zu gut verstehen.

„Sagen Sie, sind wirklich alle Flüge nach Vancouver gestrichen?“, fragte John, kaum, dass er an der Reihe war.

„Ja, Sir. Nicht nur nach Vancouver. Der Großteil des Flugverkehrs wurde eingestellt. Es geht kein Flug raus, es kommen keine rein. Wir bedauern die Unannehmlichkeiten, aber wir nehmen Terrorwarnungen sehr ernst“, antwortet der Mitarbeiter, der wie seine Kollegin die Ruhe selbst zu sein schien.

Vielleicht war er aber auch nur noch nicht auf ein solches Unikum eines aufgebrachten Passagiers getroffen, wie seine Kollegin. Ein Umstand, der sich bestimmt schnell ändern wird, dachte sich John, als er die Ungeduld der anderen praktisch spüren konnte.

„Ja, ich verstehe. Wie lange?“

„Tut mir leid, Sir, aber das können wir noch nicht genau sagen. Aber wir gehen von einigen Stunden aus. Die Untersuchungen laufen bereits. Aber ich kann Ihre Reservierung gerne umbuchen, und wenn Sie uns eine Mobilfunknummer angeben, informieren wie Sie gerne, sobald der nächste Flug freigegeben wurde.“

John überlegte nicht lange und ließ sich für den nächstfrühesten Flug eintragen, gab seine Handynummer an und schaltete auch gleich sein Telefon wieder ein. Dann sah er noch einmal zu dem Schalter, an dem er seinen früheren Gesprächspartner entdeckt hatte, aber offensichtlich war dieser voller Wut bereits davon gestapft. Er konnte ihn nirgendwo ausmachen. Schade.

John musste zugeben, er war überrascht, zu erfahren, dass sie wohl den gleichen Flug gehabt hätten und er hätte sich auch gefreut, noch ein wenig länger mit diesem Mann zu plaudern, ihn vielleicht näher kennenzulernen, aber es sollte wohl nicht sein. Vielleicht war es auch besser so. Es wäre wahrscheinlich ohnehin nicht gut ausgegangen.

John hatte kein Problem, sich in größeren Menschenmengen aufzuhalten, er hatte auch keine Schwierigkeiten, eine ganze Bande Geschäftsleute im Zaum zu halten oder neue Geschäftsbeziehung zu knüpfen und zu unterhalten, aber wenn es auch nur ein bisschen privater zuging, war da wieder dieser Knoten in seinem Inneren, der ihm so manche Hemmung bescherte.

John seufzte und verdrängte die Gedanken daran wieder. Nun, wo reisetechnisch alles so weit geklärt war und der Flug vorläufig auf Eis lag, war es vielleicht Zeit, erst einmal etwas zu essen. Sein Frühstück war ziemlich mager ausgefallen und nun knurrte sein Magen schon wie ein alter Schäferhund.

Während er sich so an den langen Schlangen und der Menschenmenge vorbei schob, flog sein Blick über die vielen Werbetafeln und Prospektstände an der Seite. Normalerweise beachtete er die Reklame gar nicht. Weder am Flughafen noch in Shoppingcentern – wenn er denn mal in welche ging. Aber ein Werbeflyer erlangte seine Aufmerksamkeit.

Nachdenklich ließ er seinen Blick über die Informationen darauf gleiten, doch als er wieder dieses penetrante Geräusch seines protestierenden Magens hörte, ließ er den Flyer kurz entschlossen in seine Jackentasche gleiten und machte sich auf den Weg.

Doch kurz vor einer Tafel mit dem Lageplan der Stores und Restaurants der naheliegenden Terminals hielt John plötzlich inne. Wenn er sich nicht sehr irrte, stand dort sein blauäugiger Tischnachbar aus dem Starbucks und schien ebenfalls nicht so recht zu wissen, wohin mit sich. John presste kurz die Lippen zusammen, seufzte, lächelte dann aber. So viel Zufälle kann es doch gar nicht geben, oder?

„Na, können Sie sich auch nicht entscheiden, mit was Sie Ihren Gaumen erfreuen und Ihren Magen füllen sollen?“

Rodney zuckte zusammen, als er die bekannt klingende Stimme neben sich hörte und als er dann zur Seite sah, traute er seinen Augen nicht. Eigentlich dachte er, diesem Fettnäpfchen entkommen zu sein. Stattdessen schien es ihn wohl zu verfolgen.

„Sie? Was machen Sie hier? Ich meine … verfolgen Sie mich etwa?“, platzte es aus Rodney.

John grinste. „Nein, bestimmt nicht. Nur scheint der Zufall es anders mit uns zu meinen. Mein Flug wurde gecancelt, und da ich nicht weiß, wie lange es dauert, bis der nächste geht, falls überhaupt, dachte ich, ich gehe was spachteln. Wollte mir nur einen Überblick verschaffen.“

Rodney nickte kaum merklich und war in seinen Gedanken versunken, die er eigentlich gar nicht richtig erfassen konnte.

„Und können Sie etwas empfehlen?“ fragte John, obwohl er selbst schon eine recht gute Vorstellung seines Lunches hatte.

„Hm? Entschuldigung was?“, fragte Rodney nach, als er aus seinem Starren gerissen wurde.

„Können Sie was empfehlen?“

„Oh … ähm … nein, eigentlich nicht. Ich bin nicht von hier. Ich habe auch nicht damit gerechnet, mich nun in einen dieser Läden setzen zu müssen. Ich bevorzuge das Essen in Flugzeugen, aber nicht in den Diners und … sonst was. Aber da mein Flug nun gecancelt wurde, muss ich mich anderweitig umsehen, wie ich meinen Blutzuckerspiegel auf Trab halte.“

„Diabetes?“, hakte John nach, ahnte aber bereits die Antwort.

„Nein. Aber ich will es auch nicht so weit kommen lassen. Mein Stoffwechsel ist nur etwas … ja“, brachte Rodney hervor und rief sich gleich wieder zur Ordnung. Er plapperte schon wieder drauf los.

„Verstehe. Tja, wie wäre es, wenn wir Ihren Stoffwechsel mit etwas Gutem vom Grill von BOA Steakhouse konfrontieren? Die haben eine ganz passable Auswahl an Salaten, Sandwiches, Hühnchen und Fisch und ein Filet, ich sage Ihnen, Sie lecken sich alle zehn Finger danach“, erklärte John.

Rodney hingegen zögerte noch und ließ seinen Blick unschlüssig, aber unauffällig über den dunkelhaarigen Mann schweifen. Ach, was konnte es schon schaden, sich noch ein bisschen zu unterhalten und dabei gut zu essen? „Ja, warum nicht. Klingt gut.“

„Gut! Dann wird es wohl Zeit, sich vorzustellen. Ich weiß immer ganz gerne, mit wem ich esse. John. John Sheppard“, stellte John sich vor und streckte seine Hand aus, die Rodney willig annahm.

„Rodney McKay. Doktor Rodney McKay.“

~~~

Rodney war angenehm überrascht. Das kleine Restaurant entpuppte sich mit seiner ruhigen und angenehmen Atmosphäre als ein Treffpunkt für Leute mit höheren Ansprüchen. Der Service war ausgesprochen gut, die Karte bot wirklich für jeden Gaumen etwas und sogar eine nicht gerade kleine Auswahl an den verschiedensten Weinen lud zum Schlemmen, Genießen und Entspannen ein.

Es fiel Rodney schwer, sich etwas von der Karte auszuwählen, zumal ihm Sheppards Tipp mit dem Filet nicht aus dem Kopf gehen wollte. Aber nachdem er mit dem Kellner die Abwesenheit jeglicher Zitrusfrüchte in seinem Essen geklärt hatte, entschied auch er sich für einen kleinen Salat als Vorspeise und das Filet mit Rosenkohl und Kräuterbutter als Hauptgang.

Bis das Essen serviert wurde, hatten John und Rodney einen lockeren Small Talk gepflegt und wussten mittlerweile auch schon ein wenig mehr über den jeweils anderen. Schließlich mussten sie sogar über die doch skurrilen Zufälle lachen, die sie nun gemeinsam dort sitzen ließen. Beide waren auf dem Weg zu ihren Familien in Vancouver, waren aber nicht wirklich erpicht darauf, die Feiertage mit ihnen zu verbringen und schoben es auf die Arbeit und beide wurden trotz aller Einwände praktisch durch ihre Geschwister dazu genötigt.

Es war ein recht lockeres und gemütliches Mittagessen und irgendwann kam man auch auf die Problematik der ausgefallenen Flüge zu sprechen. Der Ärger war bei beiden zwar groß, aber es nutzte alles nichts. Wollte man noch vor Heiligabend nach Vancouver, musste man eben warten und hoffen, dass sich die Terrorwarnung schnellstmöglich als Fehlalarm herausstellte.

„Vielleicht auch nicht“, meinte John und zog den Flyer aus seiner Tasche, der ihm eben an einem Projektestand aufgefallen war. „Es ginge vielleicht nicht ganz so schnell wie mit dem Flugzeug, aber … es wäre vielleicht sogar noch angenehmer.“

Rodney nahm den Flyer an sich und studierte ihn aufmerksam. „Mit dem Zug? Sie wollen per Zug bis nach Vancouver?“

„Seattle. Ich würde mit dem Coast Starlight 14 von hier nach Seattle fahren. Von da aus wäre es nur noch ein Katzensprung nach Vancouver“, erläuterte John und Rodney kam nicht umhin, zu bemerken, welcher Glanz plötzlich in den Augen seines Gegenübers lag.

„Klingt interessant“, meinte Rodney nur.

„Ist es auch. Letztes Jahr erst habe ich mit meiner kleinen Nichte einen Ausflug gemacht und wir sind die Strecke an der Küste entlang gefahren. Sie war ganz begeistert und mich hatte es auch nicht gerade kalt gelassen.“

Wieder nickte Rodney nachdenklich und stellte sich vor, wie er selbst mit seiner Nichte einen solchen Ausflug unternehmen könnte. Er hatte Maddie schon lange nicht mehr gesehen. Jedenfalls nicht von Angesicht zu Angesicht. Aber Jeannie ließ es sich nicht nehmen, ihm immer wieder ein paar Bilder an die E-Mails anzuhängen. Erst neulich hatte ihn plötzlich ein großes schwarzes Kätzchen angelächelt, als er die Mail seiner Schwester öffnete. Maddie und Jeannie waren so stolz auf das Halloween Kostüm, dass sie ihm doch glatt ein halbes Fotoalbum sendeten.

Rodney seufzte. Er verbrachte einfach zu wenig Zeit mit seiner Nichte und Jeannie hatte sich auch schon mehrmals darüber beschwert, dass Rodney sich immer öfter und immer mehr zurückzog und geradezu einigelte.

„Na, was ist mit Ihnen?“, brachte Sheppard hervor und riss ihn wieder aus seinen Gedanken. „Wollen Sie auf den nächsten Flug warten, oder mieten Sie sich doch eher ein Auto und fahren selbst hoch?“

„Ich denke, ich werde fliegen. Terrorwarnungen kommen doch schon fast stündlich rein und der Zug fährt erst morgen gegen zehn wieder. Bis dahin dürfte alles wieder seinen gewohnten Gang gehen und ich könnte schon heute Abend in Vancouver sein.“

„Ein Jammer, es wäre eine unterhaltsame Zugfahrt geworden. Aber wie Sie meinen.“

Rodney befürchtete schon, bei Sheppard auf einen aufdringlichen Typen wie Rittner gestoßen zu sein, doch sein Gegenüber machte keinerlei Anstalten, ihn irgendwie zu überreden oder ihn zu dieser Zugfahrt zu drängen. Tatsächlich war dieses Thema sogar vom Tisch. Der Mann stellte sich als eine angenehme Überraschung heraus. Vielleicht war das der Grund für das plötzliche Gefühl eines Bedauerns.

Eine fünfunddreißigstündige Zugfahrt entlang der Pazifikküste und durch die Oregon Coast Range. Das hatte doch was. Seine letzte Zugfahrt lag schon so lange zurück, dass er sich kaum daran erinnerte und von dieser Strecke hatte er schon den einen oder anderen begeisterten Kommentar gehört. Und dann wäre da noch eine bisher angenehme Gesellschaft.

Rodney dachte an seine plötzliche Panikattacke im Starbucks zurück und schalt sich selbst einen Narren. Wie hatte er den Mann nur schon so früh so falsch einschätzen können? Gut, er kannte ihn zwar immer noch nicht besonders gut, aber zumindest kamen in ihm keine Gedanken mehr an Psychopathen oder Serienkiller auf. Aber für eine gemeinsame Zugfahrt reichte es auch nicht.

Die beiden kamen wieder in Gespräche über Gott und die Welt und so zog sich der Nachmittag dahin, bis John Nägel mit Köpfen machen wollte und seinen Flug gänzlich stornieren ließ und sich ein Zugticket für den nächsten Tag reservieren ließ. Rodney hingegen wollte der Fluggesellschaft noch ein wenig Zeit geben, ihren Flugplan wieder aufzunehmen.

So verabschiedeten sich die beiden voneinander, wünschten sich eine gute Reise und frohe Weihnachten und sollten fortan getrennte Wege gehen, als John wieder nach Hause fuhr und Rodney sich am späten Nachmittag ein kleines Zimmer im Embassy Suites nahm und sich murrend und knurrend zurückzog.

~~~

Es war gerade mal halb zehn am Morgen, als John sich nach einer überwiegend schlaflosen Nacht am Bahnhof einfand und nun gähnend und reckend und streckend auf seinen Zug wartete. Trotz des Joggings, der erfrischenden Dusche und des starken Kaffees zog die Müdigkeit erbarmungslos an ihm.

Immer wieder hatte er sich hin und her gewälzt und gegen die grausamen Bilder der Vergangenheit angekämpft, die sich ständig in seinen überwachen Geist schleichen wollten. Und wenn er es dann doch schaffte, einzuschlafen, quälten ihn wieder die Albträume, die ihn schon vor Jahren heimsuchten.

Sie vollkommen loszuwerden, war unmöglich. Er hatte schon über verschiedenste Beruhigungstees und Pillen bis hin zu Meditation und Hypnose alles versucht. Am Ende folgte er dem Rat seines Bruders und fand sich auf der Couch eines Psychologen wieder und ließ sich auf eine Therapie ein. Mit Erfolg. Es dauerte zwar seine Zeit, aber John konnte irgendwann über die harte Zeit sprechen und lernen, damit umzugehen. Die Albträume verloren an Schrecken und Intensität und eine ganze Zeit lang hatte er sie unter Kontrolle und sie waren sogar beinahe verschwunden.

Bis letzte Nacht. Seit Stunden versuchte John, herauszufinden, was der Auslöser gewesen sein mochte, nun wieder Lyles Gesicht vor sich zu sehen, kaum, dass er die Augen schloss. Aber er kam einfach nicht dahinter, also versuchte er wieder, die Bilder vor seinem geistigen Auge zu verbannen und sich auf die Weihnachtszeit mit seinem Bruder und seiner kleinen Nichte zu freuen. Mira war ein Wirbelwind und John fand meist keine fünf Minuten Ruhe, wenn sie in der Nähe war. Aber er liebte es, sie um sich zu haben, Ausflüge mit ihr zu unternehmen, mit ihr zu spielen und ihr Geschichten zu erzählen und vorzulesen.

Ein seliges Lächeln legte sich auf seine Lippen und die Albträume waren fast schon wieder vergessen. John ließ seinen Blick über das geschäftige Treiben auf dem Bahnhof gleiten und gähnte abermals, bevor er sich erhob und in den gerade eingefahrenen Zug stieg.

Nachdem er seine kleine Schlafkabine inspiziert und seine Sachen bis auf ein paar Kleinigkeiten verstaut hatte, ließ er sich in einem Sessel in einem der Aussichtswaggons nieder. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ihn eine vertraut klingende Stimme ansprach.

„Entschuldigen Sie, ist hier noch frei?“

John sah auf und blickte wieder in diese leuchtend blauen Augen vom Vortag. „McKay! Ich dachte, Sie wollten fliegen“, brachte John hervor, wies aber sofort auf den freien Sessel vor sich.

„Ja, ich und ein paar Hundert andere Menschen wollten das auch, aber die Fluggesellschaft scheint anderer Meinung zu sein und glaubt, sich das tatsächlich erlauben zu dürfen. Und da Sie mich mit diesem Zug so neugierig gemacht haben, dachte ich, ich versuche es doch einfach mal. Das heißt, ich werde Sie beim Wort nehmen und auf die Aussicht, das Essen und das  Drum und Dran achten“, erklärte Rodney, der sich etwas umständlich mit seiner Tasche und dem Teddy in den Sessel zwängte.

John lächelte erfreut, aber für Rodney war es eher ein schiefes, jungenhaftes Grinsen. Es war, als würde er in das Gesicht eines Jungen blicken, der gerade selbst begeistert über seine allererste Zugfahrt sprach und doch hatte es nun etwas geradezu Hypnotisierendes.

„Waren Sie noch nicht in Ihrer Kabine?“, fragte John.

„Schon. Aber in dieser Tasche befindet sich das allerwichtigste, das ich im Moment habe. Das werde ich nicht unbeaufsichtigt in irgendeiner Kabine liegen lassen, in der Gefahr, dass es jederzeit gestohlen werden kann.“

John presste die Lippen zusammen und nickt nur kurz. „Die Kabinen sind absperrbar.“

„Mag sein. Aber das ist äußerst wichtige Arbeit. Glauben Sie mir, sie sollte nicht einfach so irgendwo rum liegen. Außerdem dachte ich, dass ich mich später noch ein Stündchen damit beschäftigen könnte. Nicht, dass ich mich nicht gerne mit Ihnen unterhalte … nein, nein, Sie äh … Sie sind ein ausgezeichneter Gesprächspartner“, stotterte Rodney vor sich hin, bevor er sich selbst wieder zur Ruhe zwang. „Aber ich möchte gerne bald nennenswerte Fortschritte machen.“

„Woran arbeiten Sie?“

„Das … das möchte ich ungern erklären. Vor allem nicht hier an einem so … belebten Ort. Außerdem ist es recht kompliziert.“

„Verstehe.“ Und John verstand wirklich. Er kannte die Marotten und Besonderheiten von Wissenschaftlern und Physikern nur zu gut. Hin und wieder musste auch er sich mit einigen Exemplaren dieser Spezies abgeben und unterhalten.

Doch bei Rodney schienen noch andere Gründe für sein vorsichtiges Schweigen vorzuliegen. Vielleicht mochten sein ehemaliger Boss und die Diskussion über Projekte und Rechte damit zusammenzuhängen, von dem er am Vortag nur kurz berichtete. Daher entschied John, nicht weiter zu bohren.

„Vielleicht wird die Zugfahrt Ihnen sogar dabei helfen, sich besser auf Ihre Arbeit zu konzentrieren. Womöglich kommt es zu einem Durchbruch. So oder so, ich bin sicher, dass Ihnen die Zugfahrt bestimmt gefallen wird.“

Rodney lächelte unverbindlich und im Nu waren die beiden Männer wieder in angeregte Gespräche vertieft. Rodney stellte dabei sein enormes Wissen über so ziemlich alles und jeden unter Beweis und John hörte ihm aufmerksam zu. Einiges wusste er selbst, aber vieles überraschte ihn auch. Je mehr Zeit verging, desto unbeschwerter und lockerer wurden die Gespräche, bis beide anfingen, ein wenig mehr aus dem Nähkästchen zu plaudern.

„Wieso haben Sie die Air Force verlassen?“, wollte Rodney wissen, als er Johns drucksender Erzählung lauschte.

„Sagen wir einfach, die Air Force und ich hatten unterschiedliche Vorstellungen“, brachte John hervor und sah zu einem Krümel neben seinem Teller.

„Worüber?“

„In der Theorie redet die Air Force ganz gerne darüber, niemanden zurück zu lassen, aber in der Praxis sieht es ganz anders aus. Besonders in einem Land wie Afghanistan kann es … böse enden. Ein paar Kameraden von mir wurden nahe Kandahār abgeschossen und forderten Unterstützung an. Aber die Air Force und die Afghanis konnten sich nicht über eine gemeinsame Rettungsmission einigen … während unsere Jungs … um ihr Leben kämpften.“

Rodney beobachtete sein Gegenüber und sah, wie sich blankes Entsetzen in seinen Augen widerspiegelte, während er sich an dieses Trauma erinnerte. „Also haben Sie gekündigt.“

„Nachdem ich mir einen Hubschrauber schnappte und hinter die feindlichen Linien flog, um meine Kameraden rauszuholen, ja.“

„Ohne Befehl? … Haben Sie es geschafft?“, fragte Rodney leise weiter, und sah, wie Sheppards Kiefer zuerst mahlten, sich dann aber plötzlich der Schleier einer unsäglichen Trauer über sein Gesicht legte.

„Wenn man meinen Heckrotor nicht getroffen hätte … ich ging in der Nähe der ersten Absturzstelle runter und konnte mich dann zu ihnen … durchkämpfen. Aber als man sich endlich für eine Rettungsaktion entschied … waren wir nur noch zu dritt.“ John schloss kurz die Augen und schluckte, als er wieder Lyles Gesicht vor Augen hatte.

„Tut mir leid … er war wohl mehr als ein Kollege oder Kamerad.“

Eine ganze Weile sah John zu Rodney und fragte sich, wie viel er sagen wollte oder konnte, bevor es allzu deutlich wurde. Aber Rodney schien bereits zu verstehen und hinter die Fassade blicken zu können. Er sah Sympathie und Mitgefühl in seinen Augen und da war noch mehr. „Kann man so sagen …“ Sein Gegenüber nickte stumm. „Bevor es zu einer Anhörung oder einem Kriegsgerichtsverfahren kam, bin ich gegangen.“

„Muss gefährlich gewesen sein … ich meine nicht Afghanistan per se, aber … so ein Leben im Militär …“

„Wir wussten, auf was wir uns einließen … daher war unser Austritt schon lange geplant. Nur hätte er nicht … Aber so ist das wohl. Das Leben ist nicht fair“, meinte John knapp und atmete tief durch. „Was ist mit Ihnen? Was hat es mit den unterschiedlichen Vorstellungen und Ihren Projekten auf sich, die Sie gestern erwähnten?“

„Ich war Astrophysiker bei Humble Research“, begann Rodney zu erklären und verstand Sheppards Wunsch, sich aus den Gedanken und Erinnerungen an Afghanistan zurückzuziehen. „Als ich dort anfing, machte mir die Einrichtung einen vielversprechenden Eindruck und ich kam mit den vielen Projekten auch gut voran. Aber als man dieses miese, verkommene Frettchen namens Rittner als Personalchef einstellte, ging alles den Bach hinunter. Der Mann hat es ganz allein geschafft, die Firma in den Ruin zu treiben und ich sollte den Karren aus dem Dreck ziehen.“

„Wundert mich ehrlich gesagt nicht. Sie machen mir den Eindruck eines sehr intelligenten und fähigen Mannes“, meinte John und konnte schwören, ein leichtes schüchternes Erröten bei Rodney zu erkennen.

„Nun ja, der Mensaverein nimmt schließlich nicht jeden auf. Aber was Humble Research angeht, habe ich endgültig einen Schlussstrich gezogen, als man die Herausgabe all meiner Forschungsprojekte verlangte, mich aber in eine Art Zwangsurlaub schicken und den größten aller Fachidioten als Leiter der Forschungsabteilung einsetzen wollte. Mal ehrlich, ich habe mir den Arsch aufgerissen für die Firma. Unzählige unbezahlte Überstunden und eine Ansammlung von Urlaubstagen, auf die jeder andere neidisch wäre. Ganz zu schweigen von Rittners andauernden …“

„Andauernden was?“, hakte John nach, als Rodney stockte. Aber ihn beschlich bereits eine ungefähre Ahnung.

Rodney seufzte gequält auf. „Nun, er litt offenbar unter der verrückten Idee, ich könnte Interesse an ihm haben … oder an etwas mit ihm.“

John nickte nur. Während er von Humble Research schon das eine oder andere gehört hatte, war ihm dieser Rittner jedoch fremd, auch der Name war ihm nicht geläufig, aber er konnte sich vorstellen, wie das zwischen ihm und McKay abgelaufen sein musste.

Auch er hatte in der Vergangenheit schon das eine oder andere Mal mit Personen zu tun, die sich zu leicht einer Illusion hingaben und etwas in eine harmlose Geschäftsbeziehung oder Bekanntschaft hineininterpretierten. Gut, es waren zwar überwiegend Frauen, aber hier und da war auch ein Mann darunter und John hatte schon eine stattliche Summe an Abfuhren erteilt.

Da kam es ihm gerade recht, der Sohn eines großen Wirtschaftsmoguls zu sein, denn keiner wollte es sich mit Patrick Sheppard verderben. John konnte zwar selbst ganz gut auf sich aufpassen, und er brauchte schon gar nicht die Hilfe seines Vaters, sich einer Klette zu entledigen, aber spätestens seit Sheppard Senior unfreiwillig Zeuge eines mehr als unmoralischen Angebotes gegenüber seiner Schwiegertochter wurde, wusste die Geschäftswelt, dass er keine Hemmungen besaß, seinen Fuß in den Hintern eines noch so angesehenen und erfolgreichen Geschäftsmann zu treten. Seitdem hatte auch John weniger Schwierigkeiten mit unliebsamen Personen.

„Nun, wenn er bis dahin noch nicht wusste, auf wen er sich eingelassen hätte, jetzt weiß er es.“

„Was soll das denn heißen?“, platzte es aus Rodney.

„Sie scheinen mir ein Mann zu sein, der weiß, was er will. Es ist sein Fehler, das nicht erkannt zu haben. Und es ist schade, dass Sie sich dadurch gezwungen sahen, Ihren Job aufzugeben.“

„Ich gebe ihn nicht auf. Ich … denke, es ist nur Zeit für einen Szenenwechsel. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, ein brillanter Wissenschaftler zu sein. Ich könnte überall einen Job finden. Einen, bei dem man mein Wissen und Können schätzt und mir nicht meine Arbeit wegschnappen und den letzten Hinterwäldlern geben will und einen, an dem ich auch entsprechend respektiert und bezahlt werde. Vor allem einen in einer Umgebung, die nicht daran denkt, in den nächsten Monaten rote Zahlen zu schreiben oder glaubt … mir bestimmte Gefälligkeiten abverlangen zu können.“

„Ich bin sicher, dass Ihnen das gelingt“, gab John zurück und bewunderte die Hartnäckigkeit und den Kampfgeist des Kanadiers, fluchte aber über diesen Rittner und dessen mieses Verhalten.

Den Großteil des Nachmittags verbrachte John damit, Rodney einiges über die Küste Kaliforniens zu erzählen, die man aus dem Aussichtswaggon bewundern konnte. Er erzählte von seiner Kindheit, die er zum Teil hier verbrachte und wie er auch später immer wieder hierher zurückkehrte, bevor das Militär seine Aufenthaltsorte bestimmte. Rodney staunte etwas, als er erfuhr, dass Sheppard ein leidenschaftlicher Surfer war. Das hätte er ihm am allerwenigsten zugetraut, auch wenn er schon einen ziemlich guten Eindruck über den Typus von Sheppard hatte.

Gegen Abend hatte Rodney ein kleines Reise-Schachspiel hervor gekramt und John zu einer Partie überredet. Und sehr schnell hatte er festgestellt, in dem Amerikaner einen durchaus ebenbürtigen Gegner gefunden zu haben. Aus einer Partie wurden schnell zwei und am Ende stand es unentschieden.

Es war schon spät, als der Zug noch einmal Halt machte und einige Passagiere ein- oder ausstiegen. John und Rodney bildeten die Nachhut, als sie mit einigen anderen den Schlafwagen betraten und warteten, bis die Leute zu ihren Kabinen gefunden hatten. Doch dann stutzten sie abermals.

„Ist schon komisch mit den Zufällen“, flüsterte John im Gang des Schlafwagens. „Erst treffen wir uns im Starbucks und genießen Seite an Seite unseren Kaffee, dann warten wir Seite an Seite auf unseren Flug, fahren Seite an Seite mit dem Zug und nun … liegen unsere Kabinen auch noch Seite an Seite.“

„Ich bin Wissenschaftler. Ich glaube nicht wirklich an …“

Ein plötzlicher Ruck, als der Zug wieder anfuhr, ließ Rodney nach vorne stolpern – direkt in Johns Arme, der ihn gerade so auffangen konnte.

„Zufälle“, wisperte John, als er tief in die blauen Augen des Kanadiers blickte.

„Ja … ja. Zufall ist in den Naturwissenschaften letzte, selbst ursachenlose Ursache. Er hat nichts mit Willkür zu tun. In den Naturwissenschaften unterliegt er der Steuerung durch die Umwelt, also Evolutionslehre und so und … und durch die Statistik, ja. Statistische Kausalität in der Quantenphysik. Aber … wegen seiner Unergründlichkeit … Letztkausalität wurde er in der mittelalterlichen christlichen Mystik als Gottesbeweis herangezogen und …“

„Rodney?“

„Hm?“

„Halt den Mund“, wisperte John tonlos, als er Rodney noch enger an sich zog und seine Hand über seine Wange streichen ließ.

„Dann küss mich endlich“, forderte Rodney flüsternd und bemerkte das sanfte Lächeln, das Johns Lippen umspielte. Sekunden später spürte er seine Lippen auf den seinen.

Der Kuss war zunächst zaghaft, fast ein bisschen zu scheu, doch dann schlang John seine Arme noch fester um ihn, hielt ihn noch enger an sich gepresst und ließ sich auf ein leidenschaftliches Duell der Zungen ein, dass es Rodney fast schwindlig wurde und er glaubte, nicht mehr atmen zu können.

Rodney war, als sei die Zeit stehen geblieben. Auch die Umgebung rückte in weite Ferne und es kümmerte ihn nicht im Geringsten, dass sie mitten Gang eines Zugwaggons standen.

Auch John schien nicht mehr klar denken zu können, als er in den Kuss hinein stöhnte. Er hatte sich so lange danach gesehnt, wieder die Nähe und Umarmung eines Mannes zu spüren, dass ihn dieser Moment in seiner Intensität fast überwältigte.

Vielleicht war es keine gute Idee, Rodney zu küssen, auch wenn dieser ihn schlussendlich aufforderte. Nein, es ging zu schnell. Viel zu schnell und viel zu weit, als er bemerkte, wie Rodney sich im Blindflug über das Schloss seiner Kabinentür hermachte und die beiden dann taumelnd hineinstolperten.

„Das ist keine gute Idee …“, keuchte John und konnte doch nicht von ihm lassen, als er ihn sanft gegen die nächste Wand drückte.

„Stimmt, die Kabine ist viel zu klein, vom Bett ganz zu schweigen.“

„Nein, ich meine … du glaubst nicht an Zufälle und ich eigentlich auch nicht … aber ich glaube an Schicksal … vor allem, wenn es sich zu Unheil und Unglück wandeln kann. Ich will nicht, dass dir etwas passiert.“

„Was soll mir denn passieren?“, fragte Rodney prustend nach und bemerkte wieder den Schmerz, der in Johns Augen lag. Sein Lächeln erstarb. „John, ich weiß nicht, was damals passiert ist, dass es dich noch heute derart verfolgt und mitnimmt. Aber du bist nicht mehr in Afghanistan und du bist auch nicht mehr bei der Air Force. Also, was soll das?“

„Ich wünschte, es wäre so einfach, Rodney“, wisperte John und fuhr über die Linie seines Kinns. „Ich bin nicht mehr in Afghanistan oder bei der Air Force, nein … aber es … Afghanistan ist in mir. Es ist schwer zu erklären … Ich habe Jahre gebraucht, um … nein. Glaube mir, manchmal sind es einfach nur die Menschen selbst, die am gefährlichsten sind. Ich würde dich in Gefahr bringen, Rodney, und ich bin nicht bereit, dieses Risiko einzugehen.“

„Okay … okay“, wisperte Rodney, als Johns Stirn gegen die seine lehnte. Irgendetwas sagte ihm, dass mehr hinter Johns gestammelter Erklärung steckte, aber als er sah, wie schwer es ihm fiel, überhaupt etwas hervor zu bringen, wollte Rodney ihn nicht noch weiter quälen.

„Außerdem hättest du mich nur für eine Nacht“, brachte John mühsam hervor, als er seine Lippen über Rodneys Kinn gleiten ließ und das verführerische Aftershave tief in sich aufsog. „Auch wenn ich nicht der Typ für One-Night-Stands bin.“

„Ich auch nicht. Und wir beide werden auch nicht in Kanada bleiben. Du wirst zurück zu deinem Leben und deiner Arbeit gehen und ich … wer weiß, wohin es mich verschlägt. Und ich bezweifle, dass eine Fernbeziehung funktionieren würde“, gab Rodney zurück und unterdrückte ein Stöhnen, als Johns Hand über seinen Hals hinab zu seiner Brust wanderte.

„Ja, ich bezweifele es auch. Wenn ich eine Beziehung mit dir haben will, dann ganz und gar und offen und ehrlich und ohne Geheimnisse und Schweigen … und vor allem mit dir an meiner Seite. Aber ein solches Leben kann ich dir nicht bieten“, erklärte John leise und streichelte wieder über seine Wange, während er sich noch immer an ihn drückte. „An meiner Seite ist es zu gefährlich für dich. Das, was dann geschehen würde … ich würde dich zerstören und … das hast du nicht verdient … ich kann es nicht zulassen.“

„John …“

„Tut mir leid.“

„Ja, mir auch“, wisperte Rodney. „Also … war es das? Verbringen wir einfach nur eine nette Zugfahrt miteinander, sagen, dass wir allerhöchstens Bekannte sind, und gehen ab Seattle getrennte Wege?“

John atmete tief ein, ließ den verführerischen Duft von Aftershave und Rodney auf sich wirken, bevor er ganz bewusst und mit aller Mühe gegen sein Verlangen ankämpfte. „Ja.“

„Zu schade … du wärst der heißeste Typ, den ich je hatte.“

John musste beinahe auflachen, doch es reichte nur zu einem Lächeln, als er seinen Kopf anhob und wieder in die blauen Augen des Kanadiers blickte. „Unterschätze dich nicht, Rodney. Du weißt gar nicht, wie schwer du es mir gerade machst.“

Rodney schwieg und blieb regungslos stehen. Er spürte nur noch Johns warme Hand an seiner Wange, seinen Daumen, der über seine Lippen strich, während die andere Hand an seiner Hüfte ruhte und seine Erektion, die gegen seinen Unterleib drückte.

Dann beugte sich John ein letztes Mal vor, hinterließ einen zarten Kuss auf Rodneys weichen Lippen und löste sich endgültig von ihm. „Gute Nacht, McKay.“

Und damit war John aus seiner Kabine verschwunden und Rodney blieb mit rasendem Herzen zurück.

~~~

John hatte die Augen geschlossen, lehnte mit dem Rücken an seiner Kabinentür und war hin und her gerissen von der Zuneigung und der Zärtlichkeit, die ihm Rodney entgegengebracht hatte und seinem Verstand, der ihn lobte und ihm Recht gab, frühzeitig gegangen zu sein.

Schon lange hatte er sich nicht mehr derart nach einem Mann gesehnt. Eigentlich noch nie. Selbst Lyle …

„Oh Gott, Lyle“, stöhnte John tonlos, als er seinen Kopf in den Nacken fallen ließ.

Wie hatte er sich nur derart gehen lassen können? Wie hatte er es nur so weit kommen lassen? Wie hatte er nur dieses Spiel spielen können? Wie hatte er nur mit seiner Erinnerung, seinem Gedenken und diesem Mann spielen können?

John wusste nicht genau, wie lange er da stand und wie lange es brauchte, die blauen Augen des Kanadiers aus seinen Gedanken zu vertreiben. Irgendwann hatte er es fertiggebracht, seine Kabine abzusperren, sich seines Hemdes und der Schuhe zu entledigen und sich in die Koje zu legen. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Seine Gedanken rasten und er war aufgekratzt, wie sein Bruder es nennen würde.

Dave würde ihn einen Narren schelten, aber John wusste es besser. Wieder einmal hatte er das Gefühl, einen Betrug begangen und Lyle als Entschuldigung benutzt zu haben. John starrte zur Decke und schüttelte mit dem Kopf. Das war doch verrückt.

Lyle war tot und John wusste nur zu gut, dass er sich das nicht für ihn gewünscht hätte. Verdammt, es gab nichts und niemanden, der ihm verbot oder ihn daran hinderte, wieder eine Beziehung mit einem anderen Mann einzugehen.

Und doch war es immer wieder Lyles Gesicht, das vor seinem Geiste auftauchte und ihn an jenen verhängnisvollen Tag in der Wüste erinnerte. Nein, niemand würde ihn hindern, etwas Glück zu finden, aber etwas schon. Dieses Etwas, das ihn nicht mehr loslassen wollte.

John kämpfte sich wieder ins Hier und Jetzt zurück, verdrängte seine Sehnsüchte, sein Verlangen und alle anderen Gefühle, die ihn doch nur am Funktionieren hinderten. Doch an Schlaf sollte nicht zu denken sein.

~~~

Auch die dritte Tasse Kaffee vermochte weder seine Müdigkeit noch das miese Gefühl zu vertreiben, dass seit dem Abend in ihm rumorte. John war schon etwas überrascht, als Rodney ihm ein relativ gut gelauntes „Guten Morgen“ schenkte, und sich zu ihm setzte. Ganz zu schweigen von dem Lächeln, das nur eines bedeuten konnte. Es war nie etwas geschehen.

Es wäre einfach, es Rodney gleich zu tun und das Geschehen des Vorabends zu vergessen. Aber John hatte noch nie den leichten Weg genommen. Dennoch wusste er nicht, wie er nun vorgehen, wie er sich verhalten oder was er sagen sollte. Also zog sich das Frühstück eine ganze Weile schweigsam dahin, bis John es nicht mehr aushielt.

„Rodney … hör zu, ich …“

„John, ist okay … wirklich. Du hast irgendetwas, das dich hindert und … ich verstehe es. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich verstehe schon. Es ist nichts passiert, okay?“, gab Rodney leise zurück und schielte dabei in die Umgebung. Doch keiner der anderen Passagiere schien sich sonderlich für die beiden Männer zu interessieren. „Wir haben uns kennengelernt, wir kamen uns näher und haben früh genug festgestellt, dass es zwischen uns nicht funktionieren würde. Du hat dein Päckchen zu tragen und ich weiß nicht, wo meines mich hinführt, also … machen wir aus der Mücke keinen Elefanten und verschlimmern wir die Sache nicht unnötig.“

Wieder sah John mehr in den Augen des Wissenschaftlers, als er anfangs zu hoffen gewagt hatte. Ja klar, da war Toleranz und auch Verständnis, Zuneigung und Mitgefühl. Aber er sah auch Bedauern und trotz allem auch den Wunsch nach Freundschaft.

John schluckte und atmete tief durch, bevor er nickte und sich wieder zurücklehnte. Doch die Anspannung sollte nur Stück für Stück weichen.

„Ich habe gehört, dass der Zug mit Verspätung in Seattle ankommt. Keine Ahnung, ob wir den nächsten nach Vancouver noch erwischen, oder ob er wartet oder ob wir am Ende festsitzen“, kam es von Rodney, als er das Thema wechselte.

„Ja … ich dachte daran, in Seattle einen Zwischenstopp einzulegen. Wir kämen ohnehin erst nach Mitternacht an und ich will meine Leute nicht aus dem Bett schmeißen“, erklärte John und lugte über den Kaffeetassenrand zu Rodney.

„Hm, daran hatte ich gar nicht gedacht“, meinte Rodney. „Klingt nach einer guten Idee. Die Frage ist nur, wann kriegen wir einen Zug von Seattle nach Vancouver?“

Plötzlich vernahm John das laute Schnipsen seiner Finger, und ehe er sich versah, hatte Rodney seinen Laptop hervor geholt und ließ seine Finger über die Tastatur fliegen. Im Nu hatte er den weiteren Reiseverlauf festgesteckt. „Da fährt ein Zug morgens um zwanzig vor acht direkt nach Vancouver. Ansonsten gäbe es da noch Busse um Viertel vor elf, Viertel nach zwei am Nachmittag …“, zählte Rodney weiter auf.

„Klingt doch gut“, war alles, was John müde lächelnd hervorbringen konnte.

Er wusste bereits jetzt schon, dass er höchstwahrscheinlich mit dem Bus fahren würde. Acht Uhr morgens wäre einfach noch zu früh, wenn er die Müdigkeit und die Trägheit aus seinen Gliedern mit einer anständigen Portion Schlaf in einem bequemen Bett statt einer Koje vertreiben wollte. Die Frage war nur, ob sich der Schlaf wirklich als erholsam und regenerierend herausstellen würde, oder ob es sich wieder in eine Horrornacht verwandeln würde.

John verdrängte die Gedanken daran, bevor sich die Bilder wieder in sein Bewusstsein schlichen und ihn abermals vollkommen neben sich stehen ließen.

Das Frühstück war beendet und beide einigten sich darauf, sich noch um ihre Arbeiten kümmern zu wollen. So verliefen auch der Vormittag und das Mittagessen größtenteils schweigsam. Am Nachmittag hing dann jeder vollends seinen eigenen Gedanken nach. Rodney arbeitete weiter an seiner Theorie, ohne John jedoch allzu viel davon zu verraten und John stellte seinen Bericht zu Ende und begann dann, in seinem Buch zu lesen, dass er sich am Morgen im Bahnhofskiosk gekauft hatte. Es hatte ihn überrascht, gerade diesen Mammut-Wälzer von Tolstoi dort vorzufinden. Aber bis zum Ende des Jahres würde er ihn bei seiner gewohnten Lesegeschwindigkeit fertig gelesen haben. Besonders, wenn er sich vermehrt von seiner Familie, ganz besonders seinem Vater, zurückzog und sich in sein Zimmer oder das kleine Gästehaus am Pool einigelte.

Am Abend hatte Rodney ihn dann ganz unverbindlich zu einem Abendfilm im Kinowaggon überreden können und die beiden lachten über eine Weihnachtskomödie, auch wenn sich eine lockere Entspannung nicht so recht einstellen wollte.

~~~

Die Verspätung ließ sie erst gegen Abend in Seattle ankommen, so dass ihnen ein eisiger Wind ins Gesicht blies, als sie in der dunklen Stadt aus dem Zug stiegen. Beide beobachteten am Rande, wie sich die meisten der Passagiere hektisch auf den Weg machten, ihren Anschluss zu finden, in wartende Busse oder Taxis stiegen oder fluchten, als ihnen der nächste Zug vor der Nase wegfuhr.

John entschied, sich für eine Nacht im Arctic Club Seattle einzuquartieren und Rodney staunte nicht schlecht. Wenn er sich nicht irrte, war es ein sehr nobles Hotel inmitten von Seattles Bankenviertel, aber es wunderte ihn auch nicht sonderlich. Sheppard war ein erfolgreicher Geschäftsmann und nächtigte während seiner Geschäftsreisen wohl öfters in solch teuren Etablissements.

Rodney machte kurzen Prozess und entschied sich ebenfalls für eine Nacht in diesem Hotel. Es war ja nicht so, als ob er es sich nicht leisten konnte. Als Physiker hatte er bei Humble Research zu Anfang wirklich nicht schlecht verdient, und obwohl er sich immer wieder das Neueste vom Neuen und nur das Beste in Sachen Computer und Elektronik leistete, legte er aber das restliche Geld zur Seite. Nun konnte er es sich doch auch mal gut gehen lassen, auch wenn es nur eine Nacht war. Vor allem aber würde es ihm sein Rücken danken, denn er glaubte, noch immer die Sprungfedern, oder besser gesagt, das Fehlen jeglicher Federn in der Koje des Zuges in seinem malträtierten Kreuz zu spüren.

Eine fünfminütige Taxifahrt brachte sie zum Hotel und Rodney staunte erst recht, als er noch nicht einmal richtig aus dem Wagen ausgestiegen war. Das Hotel verbarg sich in einem alten, aber wunderschön restauriertem Gebäude, das mindestens hundert Jahre auf dem Buckel haben musste. Rodney genoss den Anblick und glaubte sich langsam in die Zeit des Goldrauschs zurückversetzt.

Der Arctic Club war zur damaligen Zeit eine soziale Einrichtung für die Männer, die aus dem Yukon Goldrausch zurückkehrten. Die meisten fanden auf dem Wag nach Norden zwar kein Gold, aber wenn sie es schafften, zurückzukehren, kamen sie mit mehr als nur Erinnerungen. Anderen wiederum bot diese Einrichtung eine besondere Gemeinschaft von Leuten, die mit Taschen voller Gold und Geld und ebenso vielen Geschichten, die sie zu erzählen hatten, zurückkehrten und sich hier ausruhen konnten.

Nun war es ein geschmackvoll eingerichtetes Hotel, voller Traditionen und doch mit allen modernen Annehmlichkeiten. Es war nun mit seinem speziell eingerichteten Business Center, mehreren Konferenzräumen, einer Weinbar und einem exquisiten Restaurant, einem Fitnesscenter mit Pool gleichermaßen für Geschäftsleute als auch für anspruchsvolle Touristen geeignet.

„Ah, Mister Sheppard! Welch eine Freude, Sie wieder in unserem Hause begrüßen zu können“, sagte der Concierge hinter der Rezeption und riss Rodney aus seiner Bewunderung, als er sich an diesen wendete. „Sir, willkommen im Arctic Club Double Tree. Hatten Sie eine angenehme Reise?“

„Äh ja, bestens. Danke“, antwortete Rodney, als John ihm den Vortritt für die Buchung seines Zimmers gab.

„Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?“

„Mit einem Zimmer. Ich bleibe nur bis morgen und reise dann weiter“, erklärte Rodney.

„Ich bedauere, Sir. Wir haben nur noch eine Suite frei“, gab der Concierge zurück und tippte eifrig suchend noch immer auf seinem Computer umher und schüttelte letztendlich den Kopf. „Nein, Sir. Tut mir leid. Durch die Konferenz sind wir beinahe vollkommen ausgebucht.“

„Ausgebucht? Das soll wohl ein Scherz sein. Was … wie soll das funktionieren? Ich meine, wir sind zwei Personen, also brauchen wir auch zwei Zimmer. Aber bei einer Suite …“

„Dann nehmen wir eben die Suite“, meinte John und unterbrach Rodneys Redeschwall, bevor er sich wieder in eine dieser Schimpftiraden verwandeln konnte.

„Ja, aber …“

„Wir brauchen eine Unterkunft, Rodney, also nehmen wir die Suite“, gab John bestimmend zurück und nickte dem Concierge zu, der diskret abwartend da stand. „Sie ist bestimmt groß genug, so dass wir uns nicht auf die Füße treten werden.“

„Ja, Sir. Es wäre die Denali-Suite.“

„Die Denali-Suite, siehst du?“

„Woher soll ich wissen, wie groß die Denali-Suite ist?“, platzte es aus Rodney heraus, der noch immer nicht begeistert schien.

„Sie ist groß, glaube mir“, antwortete John und nickte dem Concierge zu, der sich eifrig an die Buchung machte. John vermied es allerdings, den Hotelangestellten genauer zu mustern, aber er wusste, dass Diskretion zu den höchsten und besten Eigenschaften dieses Hauses und seiner Angestellten gehörte, also musste er sich keine Gedanken machen, womöglich mit einem schiefen Grinsen oder abschätzigen Blicken bedacht zu werden. Ganz zu schweigen davon, dass er bezweifelte, dass er und Rodney die ersten Männer wären, die sich ein Zimmer teilten. „Ich habe sie schon öfter gebucht, wenn ich hier zu tun hatte. Sie wird dir gefallen.“

~~~

John und Rodney hatten sich noch gerade rechtzeitig für das Abendessen im hausinternen Restaurant namens Juno blicken lassen und gönnten sich ein opulentes Mahl, während man ihre Sachen in die Suite brachte. Dabei überraschte es Rodney, dass John als Erstes an seine Zitronenallergie dachte und den Kellner diesbezüglich informierte.

Rodney kam immer mehr zu der Überzeugung, dass er Sheppard tatsächlich mehr bedeuten musste, als er anfangs angenommen hatte. Es war wohl nicht einfach nur von ihm dahin gesagt, als er meinte, es würde ihm schwerfallen. Da waren auch die Blicke, die Gesten, die Fürsorge, als er ihm am Morgen immer wieder Kaffee nachgoss, mitfühlend auf sein Gejammer über die mehr als miserable Matratze in seiner Kabine einging und ihm beim Tragen des Riesenteddys half und nun, neben den vielen anderen Kleinigkeiten, auch noch seine Allergie bedachte. Da waren wirklich Gefühle im Spiel und Rodney fühlte wieder dieses Bedauern. Auch er hatte Gefühle für ihn. Aber hauptsächlich war da Neugierde, was es mit seiner Vergangenheit auf sich hatte und warum es ihm offensichtlich so schwer fiel, mit jemandem zusammen zu sein.

Für einen kurzen Moment glaubte Rodney sogar, an einen unsicheren Hetero geraten zu sein, doch der Kuss letzte Nacht sprach eine andere Sprache und ließ ihn sich schnell wieder besinnen.

 Ja, er schien sich bei ihm wohl zu fühlen, aber nur, solange es sich um eine gemeinsame Zugfahrt handelte, ein Frühstück, ein Mittag- oder Abendessen. Oder andere Gemeinsamkeiten, die keine besonderen Intimitäten beinhalteten. Alles, was darauf hinsteuerte oder damit zu tun hatte, schien ein rotes Tuch für ihn zu sein und eine geradezu blockierende Trauer in ihm hervorzurufen. Rodney hatte nicht wirklich Ahnung von solchen Dingen, aber wenn er eins und eins zusammenzählte, sprach alles dafür, dass John unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litt.

Das Abendessen war lange beendet und John und Rodney mussten zugeben, dass sie schon lange nicht mehr so gut gegessen hatten. Auch wenn John sich des Öfteren mit einigen Geschäftsleuten zum Lunch und dergleichen traf, achtete er jedoch dabei niemals auf das Essen. Er konzentrierte sich eher darauf, alles zur Zufriedenheit seines Vaters zu erledigen und das am besten so schnell wie möglich.

Rodney hingegen hatte sich bisher immer in seinem Labor verbarrikadiert und sich in seine Arbeit und seine Theorien vertieft. Er konnte sich selbst gar nicht mehr daran erinnern, wann er sich zum letzten Mal einen Gang in ein nobles Restaurant gegönnt hatte, oder gar ins Kino, ein Café oder eine Bar gegangen war. Ganz zu schweigen von guter Gesellschaft, die ihn hin und wieder mal raus lockte. Wenn Jeannie nicht immer mit ihren regelmäßigen Mails hinter ihm saß und ihn hin und wieder kurz besuchte, hätte er sogar schon sein Haus in ein Riesenlabor verwandelt.

Ja, das Abendessen und die Gespräche, die bis spät in die Nacht dauerten, hatten beiden gut getan. Vergessen waren die kurze Knutscherei im Zug und die Befangenheit danach. Bis sie in ihrem Zimmer ankamen. John und Rodney hatten durch Stein, Papier, Schere ausgeknobelt, wer zuerst unter der Dusche stehen durfte, aber nun blickten sie auf das Bett. Zugegeben, es war ein King Size Bett, aber doch machte sich eine Verlegenheit in ihnen breit.

„Also …“

„Du kannst das Bett haben. Ich schlafe auf der Couch“, brach es aus John heraus, bevor Rodney überhaupt zu Ende sprechen konnte.

„Was? Wieso? Ich meine … das Bett ist doch groß genug und wir sind doch erwachsen.“

„Das ist es nicht. Es ist … glaube mir, es ist besser so.“

„Ja, aber …“

„Rodney, ist schon okay. Wirklich. Nimm du das Bett.“

Rodney wollte noch etwas erwidern, aber John hatte sich bereits ein Kissen und eine Decke geschnappt und war verschwunden.

Leise schloss er die Flügeltür zum angrenzenden Wohnzimmer und lehnte wieder seinen Kopf gegen das kühlende Holz. Wie gerne würde er nun dort im Bett liegen, neben Rodney … mit Rodney. Aber so war es sicherer für ihn. Er würde sich niemals verzeihen, wenn ihm etwas zustieße, nur weil er …

Seufzend wandte sich John der Couch zu und machte sich auf ihr breit. Das würde wieder eine lange Nacht werden.

Weiter zu Teil 2

 

 

 

Shahar Jones

Meine erste Fanfic schrieb ich über Stargate Atlantis. Mittlerweile mixe ich meine Storys auch gerne mal mit anderen Fandoms, wie dem Sentinel. Aber im Großen und Ganzen hänge ich immer noch in der Pegasus-Galaxie rum. Allerdings liebe ich es auch, die Leute zu überraschen ;)

12 Kommentare:

  1. Eine wirklich schöne Geschichte, ich finde sie spitzte.

  2. Auch nach mehrmaligem Lesen gefällt mir die Geschichte ausnehmend gut. Ich finde, Du hast die beiden Charaktere gut gezeichnet, man kann sich richtig in sie rein versetzen. Dazu ein roter Faden, der uns leitet und ein Spannungsbogen, der immer schön hoch hängt und uns dazu bringt, immer weiter zu lesen.
    Deine Beschreibungen aus Afghanistan und Lyles Tod fand ich außerordentlich berührend, mir kamen bei jedem Lesen erneut die Tränen.

    Sobald ich wieder etwas Luft habe, werde ich mich auch an die anderen Geschichten machen, vorerst vergnüge ich mich mal wieder mit neuen Kapiteln :-).

    Liebe Grüße
    Tamara

    • Ich freue mich sehr, dass sie dir gefällt und auch, dass dir bei manchen Szenen die Tränen gekommen sind. 😉 Berührend sollte es ja schon sein.
      Vor allem dass du sie mehrmals liest, abgesehen vom Betan, zeigt mir irgendwie, dass vielleicht nicht ganz Hopfen und Malz bei mir verloren ist 😀
      Ich würde mich freuen, wenn dir auch andere Storys ins Auge fallen.

  3. So, nun habe ich die Geschichte auch einmal in Ruhe gelesen und ich muss sagen, sie ist sehr gut geworden, weil alles zusammenpasst und eigentlich auch die Spannungskurve stimmt –

    Ich wüsste sogar, wem du sie anbieten könntest, wenn du einfach nur ein paar Namen änderst, denn sie ist eigentlich auch als homoerotische Romanze für Leute lesbar, die SGA nicht kennen. Das AU macht es eigentlich ohne größere Änderungen möglich, und einen kleinen Versuch wäre es wert. Aber überlege es dir in Ruhe.

    Aber auch die Charaktere, wie wir sie aus der Serie kennen, sind gut zu erkennen – der brummlige Rodney, John, charmant wie immer, aber mit einem düsteren Geheimnis. Und auch die Nebenfiguren gefallen mir, vor allem Jeannie und Maddie habe ich gleich vor Augen.

    Das ganze ist eine warmherzige Liebesgeschichte, die wie Tamara schon festgestellt hat, berührt und in den Bann schlägt, weil du das Kopfkino anwirfst!

    • Jetzt will ich doch noch gerne auf dein liebes Kommentar eingehen.

      Ich freue mich, dass dir die Story gefällt und dass sie das Kapfino angeworfen hat.
      Vielleicht werde ich heute oder morgen freie Arbeiten schreben. Eine Idee rotiert schon seit geraumer Zeit in meinem Hinterkopf, auch wenn sie nicht homoerotisch ist. Aber das ist egal. Es geht ja um das Schreiben selbst.

      Ich freue mich auch zu lesen, dass ich die Charaktere relativ gut getroffen habe. Darauf kam es mir schon an, auch wenn ich ein wenig Differenz rein bringen wollte. Jeannie und Maddie hatte ich auch vor Augen als ich die Szene um Rodneys Erinnerung an eine Email mit Maddie im Katzenkostüm schrieb. 😀

      Vielen Dank für dein Feedback.

  4. Christine Schauer

    Wie oben schon beschrieben eine Mega heiße Story. Sie gefällt mir sehr gut. Der Liebesakt war schön zu lesen, bis auf das Wort (Schwanz) das hätte ich irgendwie anders genannt. Es fing irgendwie zärtlich und leidenschaftlich liebend an und dann päng. Weiß nicht irgendwie passt das Wort nicht dazu, das klingt zu wild. Wie Tamara schon schreibt das Erlebnis aus Afghanistan bringt einem zum weinen. Die Angst die John hat Rodney weh zu tun läßt einem mitfühlend. Man hofft beim weiterlesen das sie zusammenkommen. SUPER Geschichte. Ich liebe sie weiter so. Freu mich schon auf das ende von What the blood und John der Sentinal. Lg Christine

    • Hallo Christine,

      freut mich sehr, dass dir die Story gefällt.
      `What the blood desires´ kommt jetzt als nächstes dran und wird fertig gestellt und dann beginne ich, denn Sentinel neu zu schreiben.

      Danke dir fürs lesen und für dein liebes Kommentar

  5. Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Ich habe gemocht, dass Rodney’s Charakter in dieser AU ausgeglichener war, als in der Serie, aber die Hauptmerkmale doch beibehielt :D. Ich bin schon gespannt auf Deine Sentinel-Story! (Die hat mich eigentlich von der BigBang-Seite hierhergelockt :).

    • Freut mich sehr, dass dir auch diese Story gefallen hat. Anscheinend liest du dich durch die Seiten. Ich wünsche dir viel Spaß dabei. Der Sentinel ist das NaNoProjekt für diesen November. Mal sehen, wie weit ich komme.

  6. Ich dachte immer ich hatte alle deine Geschichten gelesen, aber diese hier ist irgendwie an mir vorbei gehuscht. gut das du sie im anderen Forum noch einmal hoch gepusht hast
    Eigentlich bin ich ja nicht wirklich Fan von Slash (wenn es sich um John handelt) und AU lese ich auch nicht so gerne, aber du hast beides, zu meiner Überraschung, super zusammen gebracht. Mir hat sogar der intime Part zwischen John und Rodney gefallen, gerade diese Szenen sind für mich immer im Slash Bereich schwer zu lesen, aber auch da hast du gute Arbeit geleistet, nicht zu viel aber auch nicht zu wenig ins Detail gegangen. was so eine lange Zugfahrt doch für Auswirkungen haben kann, man man.

    Mir hat sehr gefallen, wie du jede einzelne Person untergebracht hast, selbst Kavanagh durfte nicht fehlen. *fg*
    Super fand ich auch, dass Patrick Sheppard hier noch lebt und John sich mit ihm dann am Ende doch noch arrangieren konnte. Die Idee mit dem Lyle Holland Center fand ich klasse!

    So, das soll es dann mal von meiner Seite gewesen sein, auch ich wäre sehr an einer Fortsetzung interessiert. (hab auch schon abgestimmt *zwinker* )
    LG Claudi

    • Wahrscheinlich ist sie gerade weil du Slash nicht magst, an dir vorbei gehuscht 😀
      Dafür freut es mich umso mehr, dass sie dir trotz allem gefällt und ich danke dir für deine Stimme. Der Plot für den 2. Teil steht schon -es wird sich wohl zu einer Serienarbeit entwickeln. Würde mich freuen, dich auch da wieder begrüßen zu können.

      Vielen lieben Dank für dein liebes Kommentar hier.

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